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aus dem moabiter kriminalgericht
Der Anfängerdieb -
fünf Jahre Haft
von Barbara Keller
13. April 2006. Kriminalgericht Moabit, 11. gr. Strafkammer
29. 10. 2005. Räuberischer Diebstahl in einer Marzahner Medimax-Filiale. Informatikstudent Hagen H. (21) begleitet den ihm kaum bekannten Jonas beim Laptopkauf. Er ist verliebt und bleibt bei der Stange selbst als Jonas erklärt, den Laptop stehlen zu wollen. Sagt jedenfalls Hagen H. - Während Jonas jedoch mit der Beute entkommt, wird er gefasst. In der U-Haft versucht Hagen H. sich zu erhängen, ein Fluchtversuch missglückt. In der geschlossenen Psychiatrie wartete er auf das Ende des Verfahrens. - Die Kammer glaubt dem Angeklagten kein Wort.
Urteil/Urteilsbegründung am Ende des Textes
Am 29. Oktober 2005 betritt der heute Angeklagte mit seinem Komplizen Jonas die Marzahner Medimax-Filiale, um einen Laptop zu stehlen. Die Beiden sehen aus wie ein Pärchen in Bluejeans. Beide mittelgroß und schmächtig. Hagen H. mit langen Haaren. Auch auf den zweiten Blick noch mehr eine junge Frau. Es ist kurz vor Ladenschluss und es sind kaum noch Käufer in der Filiale.
Ein Laptop der Preisklasse 1.299,00 Euro soll es sein. Das Verkaufsgespräch mit dem Filialleiter Karsten S. (33) dauert höchstens zehn Minuten. Karsten S. gibt noch eine Logitec-Maus als Rabatt drauf und begleitet die beiden Jungs zur Kasse. Doch bevor es ans Bezahlen geht, schnappt sich Jonas den Laptop und rennt los. Auch Hagen H. will flüchten.
Aber der Medimax-Filialleiter Karsten S. hält ihn zurück. Als Hagen H. resolut einen Gegenstand aus der Brusttasche zieht, wirft sich der stämmige Filialleiter sofort auf den Boden. Hagen H. sprüht ihm Reizgas ins Gesicht. Trotzdem kommt er kaum 300 Meter weiter. Ein Ladendetektiv und zwei, drei Kunden holen ihn in der Nähe der S-Bahn schließlich ein. - Jonas kann mit dem Laptop entkommen.
Am 13. April 2006 lautet die Anklage gegen Hagen H. auf räuberischen Diebstahl. Ihm wird unter anderem vorgeworfen, den Diebstahl gemeinschaftlich begangen und sich die Logitec-Maus angeeignet zu haben. Außerdem fanden Polizeibeamte in seiner Jeansjacke ein Taschenmesser.
Der unvorbestrafte Informatikstudent, dem nun eine Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren droht, lässt durch seine Rechtsanwältin eine Erklärung verlesen, in der er unter anderem seinen bisher unauffälligen Lebenslauf schildert. Darunter gute Schulabschlüsse mit dem Lieblingsfach Mathematik, Gymnasium, ein Zivildienst bei der Volkssolidarität mit guter Beurteilung und das Traumstudium Informatik.
Nur mit dem Flüggewerden, so der junge Student selbstkritisch, klappt es nicht so richtig. Er wohnt noch immer in der Marzahner Wohnung bei der Mutter, einer Schulsachbearbeiterin, die seit Jahren von ihrem Mann, einem BMSR-Ingenieur, getrennt lebt und ihre drei Kinder allein erzieht. Sie überbehütet ihn, hält ihn unselbständig, doch er hört auf sie, wie er sagt.
Kurz vor dem Diebstahl in der Medimax-Filiale in der Marzahner Märkischen Allee will Hagen H. seinen Komplizen Jonas kennen gelernt haben. Hagen H., der weder einen festen Freund noch eine feste Freundin hat, fühlt sich von Jonas stark angezogen. Er verliebt sich, glaubt schwul zu sein.
Als Jonas sich am 29. Oktober 2005 abends einen Laptop bei Medimax kaufen will, begleitet ihn Hagen H. Kurz zuvor offeriert ihm Jonas jedoch, dass er kein Geld habe und das Gerät stehlen wolle. Das sei ganz einfach, sagt er. "Mein Schwarm sollte sich nicht von mir abwenden", lässt Hagen H. später vor Gericht seine Rechtsanwältin für sich sprechen. - Er begleitet Jonas trotzdem.
Es wird nicht der einzige Fehler bleiben, den er begeht. Nach einschlägigen Erfahrungen in der U-Haft, nachdem er sich die Haare geschoren hat und einem Versuch sich zu erhängen, sucht er zu flüchten. Nach Frankreich, wie ein Mithäftling plaudert. - Eine Haftverschonung, wie von seiner Rechtsanwältin beantragt, kommt für Hagen H. unter anderem deshalb nicht in Betracht.
Urteil (vom 05.06.06):
Fünf Jahre Haft. Der Angeklagte ging in Revision.
zur Urteilsbegründung der 11. Strafkammer:
Der nicht vorbestrafte Marzahner Informatikstudent mit dem bisher unbefleckten Lebenswandel fand keine Gnade vor der 11. Großen Strafkammer, die dem Angeklagten vor allem Berechnung, Überheblichkeit und Selbstmitleid attestierte. Hagen H. habe eine unwahre Geschichte nach der anderen aufgetischt. Zuerst berechnend behauptet, als unbeteiligter Kunde unverschuldet in die Geschichte geraten zu sein. Dann - wer einmal lügt, dem glaubt man nicht - die Geschichte mit dem Coming Out.
Zu Guter Letzt sei sogar der Selbstmordversuch im Moabiter Strafvollzug nur fingiert gewesen, um seine schließlich missglückte Flucht (nach Frankreich) zu ermöglichen. Und habe unerfreulicher Weise den Beginn der Hauptverhandlung am 1. Februar 2006 platzen lassen, bis Hagen H. endlich in der geschlossenen Abteilung des Krankenhauses Königin Elisabeth Herzberge (in dem er freiwillig in Absprache mit Mutter und Rechtsanwältin unterschlüpfte) ausgemacht werden konnte.
In ihrer Urteilsbegründung erklärt die Strafkammer: "Die Kammer glaubt dem Angeklagten seine Darstellung nicht." Sie sei vielmehr davon überzeugt, "dass der Angeklagte gemeinsam mit seiner Verteidigerin diese Darstellung erstellt hat, um den Einundzwanzigjährigen als eine möglichst naive, unerfahrene und noch sehr in jugendliche Verhaltens- und Denkstrukturen verhaftete Person darzustellen."
Der Angeklagte ließ allerdings nichts aus, sich bei der Strafkammer unsympathisch zu machen. Seine Entschuldigungen gegenüber den Geschädigten klangen halbherzig, von "heruntergeleiert" spricht die Kammer. Der anpassungsungewohnte Hagen H. hätte sogar herrisch seine Rechtsanwältin dominiert. Auf die Frage des Gerichts, ob die Ärzte des Haftkrankenhauses von der Schweigepflicht entbunden werden könnten (immerhin ging es um die Option der Strafmilderung zu seinen Gunsten), lautete die trockene Erklärung des Angeklagten "auf keinen Fall". Seine Entscheidung kam wie aus der Pistole geschossen und konnte auch von seiner Verteidigerin nicht ins Wanken gebracht werden.
Die 11. Strafkammer verhängte gegen den Debütanten im kriminellen Fach die gesetzliche Mindeststrafe von fünf Jahren Haft. Da ein räuberischer Diebstahl nach § 252 StGB bei Gewaltanwendung oder Drohung von Gewaltanwendung gleich einem Raub bestraft wird und Hagen H. ein 'gefährliches Werkzeug' nicht nur bei sich führte, sondern auch benutzte, bedeutet das fünf Jahre Haft für den entgleisten jungen Mann.
Frühestens nach zwei Jahren und acht Monaten könnte Hagen H. - natürlich unter Auflagen - wieder auf freien Fuß kommen. Berücksichtigt man die bereits abgesessenen sieben Monate und die Möglichkeit, nach 2/3tel Haftverbüßung bei guter Führung vorzeitig entlassen zu werden.
Die seltsame Diskrepanz zwischen dem Musterschüler mit sozialem Faible und dem berechnenden, mit CS-Gas bewaffneten Anfängerdieb eines Laptops ließ die Kammer dahingestellt.
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NJW schreibt:
"Es gibt noch qualifizierte Gerichtsreporter..."
NJW-aktuell - web.report H. 38/2010, S.3
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'Mitgefangen, mitgehangen.'- Der verliebte Informatikstudent Hagen H. begleitet seinen Schwarm Jonas auf Diebestour ins Medimax und wird erwischt. Der Angebetete indessen flieht mitsamt der Beute.
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In eigener Sache:
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