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Gerichtsreportagen
Zwei blaue Stiefel und ein rotes Kleid
Geldstrafe für Lkw-Fahrer wegen
fahrlässiger Tötung
von Susanne
Rüster
Amtsgericht
Tiergarten, 22.09.2020,
Am 20. Februar 2019 vormittags biegt Hasan U. (50)
mit seinem Lkw von der Alexanderstraße in
Berlin-Mitte nach rechts in die Karl-Marx-Allee. Er
übersieht eine 37-jährige Frau, die weiter
geradeaus fahren will. Sie wird unter das Fahrzeug
gezogen, überrollt und verstirbt noch am Unfallort.
"Ich war Lkw-Fahrer." Das sind die ersten Worte des
50-jährigen deutsch-türkischen Angeklagten Hasan
U. vor dem Amtsgericht Tiergarten. "Jetzt lebe ich von
Arbeitslosengeld."
Die Anklage wirft Hasan U. vor, am 20. Februar 2019 gegen 10
Uhr mit seinem Lkw beim Abbiegen von der
Alexanderstraße in Berlin-Mitte nach rechts in die
Karl-Marx-Allee nicht aufmerksam genug die anderen
Verkehrsteilnehmer beobachtet und hierdurch fahrlässig
den Tod einer Radfahrerin verursacht zu haben. Die
37-jährige Frau, die weiter geradeaus fahren wollte,
prallte mit dem Fahrrad auf den abbiegenden Lkw, wurde unter
ihn gezogen und überrollt. Sie erlitt ein Polytrauma
und verstarb noch am Unfallort.
Hasan U. ist sich keiner Schuld bewusst. Bei Grün sei
er abgebogen, habe zuvor in alle Spiegel geschaut, mehrere
Radfahrer und Fußgänger passieren lassen, dann
nochmals in die Spiegel geschaut. "Ich habe sie nicht
gesehen, obwohl ich vorsichtig fuhr", sagt der
Berufskraftfahrer. "Ich kann mir nicht erklären, wo die
Radfahrerin plötzlich herkam." Ihren Schrei habe er
gehört.
Hasan U. macht einen verzweifelten Eindruck, weiß
nicht, wie es weitergehen soll. Seine Bewerbung als Fahrer
bei der BVG liegt auf Eis, bis der Prozess abgeschlossen
ist. Der Angeklagte ist in psychologischer
Trauma-Behandlung. Er weint mehrfach.
Die Eltern des Opfers sind nicht erschienen, sie lassen sich
in der Nebenklage durch einen Anwalt vertreten.
Acht Zeugen sind geladen, jedoch nur eine Augenzeugin wird
gehört. "Ich habe es kommen sehen", sagt die Frau. "Der
Lkw war schon im Anfahren als die Radfahrerin ziemlich
schnell herankam. Ich hörte sie noch schreien."
Der verkehrstechnische Sachverständige vermag in seinem
ausführlichen Vortrag den Ablauf des Unfalls nicht
restlos zu rekonstruieren. Die Schutzpolizei habe leider
keine Wegeaufzeichnung gesichert, sondern nur die aus dem
Fahrtenschreiber ersichtlichen Lenk- und Uhrzeiten. Die
Anstoßspuren seien unklar, er könne nicht sagen,
ob die Radfahrerin vom vorderen Rad des Lkw oder vom
hinteren Doppelrad überrollt wurde oder auch zweimal,
wie die Augenzeugin angegeben hat.
Fotos von der Unfallstelle zeigen den zum Stehen gekommenen
Lkw, das unter einem weißen Tuch liegende Opfer,
darunter eine Blutlache. Ihre blauen Stiefel und ihr rotes
Kleid liegen auf der Straße und werden zur
Untersuchung sichergestellt, ebenso das verbeulte Fahrrad
mit abgerissenem Sattel und zerdrücktem Korb.
Der Lkw verfügte über fünf Spiegel, die
Scheiben waren sauber. Der Sachverständige führt
aus, dass es nach der Sichtfeld-Vermessung für den
Radweg keine Sichteinschränkung gegeben hat. Die nach
Angaben der Augenzeugin relativ schnell heranfahrende
Radfahrerin (ca. 15 km/h) sei aus einem für den
Angeklagten einsehbaren Bereich gekommen.
Die Staatsanwältin fordert wegen fahrlässiger
Tötung eine Geldstrafe von 100 Tagessätzen zu 35
€. Der Nebenkläger-Anwalt führt aus, dass
keine Strafe der Welt das Leid der Eltern, die ihre einzige
Tochter verloren hätten, wieder gutmachen könne.
Das Schöffengericht verhängt wegen
fahrlässiger Tötung (§ 222 Strafgesetzbuch) eine
Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu 35 €. Bei
aufmerksamer Rückschau über die Spiegel hätte
der Angeklagte die Radfahrerin erkennen, rechtzeitig
abbremsen und den Unfall vermeiden können. Nach §
9 Straßenverkehrsordnung sei beim Abbiegen auf den
nachfolgenden Verkehr zu achten, wozu auch erforderlich sein
könne, sich mehrfach zu vergewissern, dass die Strecke
frei sei.
Die Einlassung des Angeklagten, er habe alles ihm
Mögliche getan, sei durch die Feststellung des
Sachverständigen, dass keine
Sichtfeldeinschränkung vorgelegen habe, widerlegt. Zu
Gunsten des im Wesentlichen sorgfältig fahrenden
Angeklagten berücksichtigte das Strafgericht, dass
lediglich leichte Fahrlässigkeit anzunehmen sei. Es
liege ein "Augenblicksversagen" ('kurze
Unaufmerksamkeit') vor.
Auch sei Hasan U. nicht bestraft und er habe sich bei den
Angehörigen des Opfers entschuldigt. Strafmildernd zu
berücksichtigen sei zudem seine eigene psychische
Belastung durch den Vorfall, ebenfalls dass er seinen Job
verloren habe. Schließlich liege auch eine
Mitverantwortung der Geschädigten, die schnell
herangefahren sei, vor. Ein Fahrverbot (§ 69 StGB) sei
nicht auszusprechen, denn aus den Umständen der Tat
ergebe sich nicht, dass Hasan U. zum Führen von
Kraftfahrzeugen ungeeignet sei.
Die Verfasserin verlässt den Gerichtssaal mit
gemischten Gefühlen. Den Angehörigen der
getöteten Radfahrerin wird eine Geldstrafe von 3.150
Euro in Anbetracht des Verlustes eines Menschenlebens
lächerlich gering erscheinen. Aber keine noch so hohe
Strafe könnte den tragischen Unfall ungeschehen machen.
Das Gesetz sieht vor, dass fahrlässige Tötung mit
Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe
bestraft wird. Und bestraft wird vorrangig nach dem Grad des
Verschuldens. Ein ‚Augenblicksversagen‘ kann
jedem noch so aufmerksamen Verkehrsteilnehmer passieren.
Hiernach erscheinen die Strafzumessungserwägungen des
Gerichts nachvollziehbar.
Eine Geldstrafe von bis zu 90 Tagessätzen wird nicht
ins Führungszeugnis eingetragen, sodass dem Angeklagten
die Aufnahme einer beruflichen Tätigkeit nicht
zusätzlich erschwert wird. Bei gröberer
Pflichtverletzung wird üblicherweise eine
Freiheitsstrafe mit Bewährung und als Auflage meist
eine Geldbuße und zusätzlich ein Fahrverbot
(§ 25 Abs.1 Straßenverkehrsgesetz) verhängt.
Es stellt sich die Frage, ob derartige tragische
Unfälle im Straßenverkehr eine Aufforderung an
die Politik sind, mehr Radfahrer-Ampeln einzurichten. Es sei
auch zu erwägen, schweren Fahrzeugen einen Beifahrer
zur Pflicht zu machen. - Immerhin wird es ab dem Jahr 2022
eine gesetzliche Pflicht zur Ausrüstung von Lkw mit
einem elektronischen Abbiegeassistenten geben.
Von der Unfallbeteiligten weiß man übrigens nur:
Sie war 37 Jahre alt, trug ein rotes Kleid und blaue
Stiefel. Von einer zweiten Chance, wie sie Hassan U. zuteil
wird, kann sie nicht einmal mehr träumen.
-> Susanne Rüster <-
Die Verfasserin war langjährig als Staatsanwältin
im Kriminalgericht Moabit tätig und ist Autorin u.a.
von Polizeiermittler-Krimis.
NJW schreibt:
"Es gibt noch qualifizierte Gerichtsreporter..."
NJW-aktuell - web.report H. 38/2010, S.3
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