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Gerichtsreportagen


Ein Buddelkasten als Grab (2)

3. - 6. Prozesstag


von Susanne Rüster

Landgericht, 28.08.20, 30. Strafkammer
Inese P., das Opfer, blickt ernst auf das Gericht herunter. Bevor ihr verwüstetes Gesicht per Beamer großflächig auf die seitliche Wand geworfen wird, erscheint ein Bild der Lebenden: Ein schmales, gut geschnittenes Gesicht mit skeptisch blickenden Augen, gerader Nase, hohen Wangenknochen, kurzen blonden Haaren. Wie konnte es geschehen, dass diese Frau so abstürzte?


Unbekannt tot: Inese P.

Unbekannte weibliche Leiche – so fällt sie bei der Kripo an. Das Gesicht der Toten für eine Fahndung zu fotografieren ist wegen der schweren Verletzungen nicht möglich. Die Überprüfung des Tatortes in der 'Basis' ergibt keine neuen Erkenntnisse. Bis auf ein Smartphone der Toten keine persönlichen Gegenstände, keine Zettel, keine Namen. Die Anwohner haben von der Tat nichts mitbekommen, niemand kannte Inese P.

Hinweise auf Prostitution finden sich trotz Nachfrage in einschlägigen Etablissements nicht. Identifiziert wird Inese P. schließlich über ihre von der Rechtsmedizin abgenommenen Fingerabdrücke im Vergleich zu einer früheren erkennungsdienstlichen Behandlung.

Eine Schleifspur auf Schotter als letzter Weg

Nur Gesicht und Füße der Toten schauen aus dem Schlafsack. Die Hacken sind schmutzig. Die Tote wurde aus der Garage durch den Hof auf die Bergstraße in Berlin-Mitte gezogen. Der Sandkasten mit dem bereits ausgehobenen 'Grab' zeigt mehrere Schuhabdrucke – ein 'Z' –, dem Angeklagten Mariusz L. zuzuordnen, und den Abdruck von einer Schaufel. Blut vom Angeklagten Pawel G. findet sich auch.

Fotos über Fotos werden an die Wand geworfen und vom Tatort-Kommissar und den Sachverständigen von der Rechtsmedizin und der Kriminaltechnik erläutert.
Kein Strom, kein Licht, kein Wasser gibt es in den Garagen im Hof, berichtet der Tatort-Kommissar, kalt und feucht im Februar. Die Tür nicht verschließbar, die Zufahrt zum Hof  mit einer langen Kette lediglich verhängt. 'Wohnlich' eingerichtet haben es sich die Obdachlosen in der Baracke. Im Vorraum Wandschrank und Regal, in einer als 'Küche' genutzten Kammer Lebensmittel, zum Teil verdorben. Eine Kiste mit Müll, eine Jacke mit Blutspuren, ein Paar 'stark nach Urin riechende' Turnschuhe, ein Rucksack mit Deo und Haarschneidegerät. Und ein verstecktes Smartphone, das der Getöteten gehört hat. Wie gelangte Inese P. hier hinein?

Der Tatort - das 'Schlafzimmer'

Zwei Matratzen liegen auf dem Boden. Blutspuren auf Laken, Fußboden,  Wand, Heizkörper, von Inese P., aber auch von den Angeklagten. Die Verfasserin lernt, wie sich Blut verteilt, wenn geschlagen, getreten wird. 'Spritznasen' entstehen bei direktem Auftreffen auf einem Körper in der Nähe, kommt Blut von weitem 'angeflogen', wird es zu 'Sprühnebel'. Das Wort-Ungetüm von 'blutsuspekten' Spuren fällt öfter. Ein Wort, das Polizisten bemühen, da sie selbst nicht juristisch korrekt beurteilen können, ob es sich um Blut handelt. Die Merkmale der Gewalt am Opfer sind für die Untersuchung mit Klebeband markiert und nummeriert, Schuppen, Fasern, kleine Partikel sind abgewischt und unterm Mikroskop untersucht worden.

Ein Schneidezahn flog durch die Luft.

Die harten Fakten aus der Obduktion trägt Dr. Rosenbaum. Leiter des Landesinstituts für gerichtliche und soziale Medizin, anhand einer Bildmappe vor: Die Leiche. Noch nicht gereinigt, dann gereinigt. Eine schlanke Person, 168 cm groß, 58 kg schwer. Blau-rote Totenflecken an der Körperunterseite. Das rötliche Haar von Blut verkrustet. Unterblutungen an Wangen und Hals, Augen und Brauen stark geschwollen, Hämatome von Faustschlägen. Das Nasenbein gebrochen, blaurot die Nase, Lippeneinreißungen, 2 Vorderzähne im Unterkiefer ausgeschlagen. Der Brustkorb abnorm beweglich, mehrere Rippen gebrochen.

Kein Sexualdelikt

Typische Schlagverletzungen, sagt der Sachverständige, und zwar zu Lebzeiten und mit massiver Gewalt. Die Getötete konnte sich kaum wehren. 2,3 Promille Alkohol im Blut, dazu Tramadol (ein Opioidanalgetikum zur Behandlung von Schmerzen). Das meiste Blut floss aus der gebrochenen Nase in den Rachenraum und wurde eingeatmet.
Ist Inese P. infolge von Fausthieben und Tritten gestorben? Ein Schlagwerkzeug wurde nicht gefunden. Die genaue Todesursache kann Dr. Rosenbaum nicht benennen. Ein Erstickungstot scheint möglich. Der Sachverständige spricht von Komplexität der Schlageinwirkung, von reflektorischen Mechanismen. Ein Sexualdelikt schließt er aus.

Die verletzten Hände der Angeklagten

Die Rechtsmedizinerin hat die Angeklagten im Haftkrankenhaus untersucht. Der Angeklagte G. hat eine verbundene Hand mit mittlerweile eitrig entzündeten Fingern. Aber zur Ursache der Verletzungen vermag die Sachverständige keine Aussage zu machen. Auch nach Faustschlägen müsse nicht unbedingt eine Verletzung auftreten.

Der Kriminaltechniker berichtet über zahlreiche Spuren. Die Verfasserin erfährt Neues über die Funktion von Wattestäbchen in der Kriminaltechnik, über die Trägereigenschaften von Haut, Kleidungsstücken, Schuhen, Gebäudebestandteilen, erfährt viel über Mischspuren, bestehend aus Blut zweier oder dreier Personen oder aus Blut plus Faserabrieb oder Hautschuppen, dominant oder nicht deutlich hervortretend. Überall im 'Schlafzimmer' Blut vom Opfer und den Angeklagten, rein oder als Mischspur. Die spannende Frage, ob er von den Spuren auf die Tatbegehung schließen könne, verneint der Sachverständige. Auch er schließt ein Sexualdelikt schließt aus. Immerhin erscheint die Angabe des Angeklagten L., er habe seine Handverletzung woanders her, nicht ausgeschlossen. Das Blut an seiner Hand zeigt nur DNA von ihm selbst. Allerdings trug er Handschuhe.

Die arbeitsteilige Vorgehensweise bei der Ermittlung von Gewaltdelikten wird deutlich. Weder die Rechtsmedizinerin noch die Sachverständigen vom Landesinstitut für gerichtliche und soziale Medizin und vom KTI können eine eindeutige Aussage zum Tathergang zu machen. Aber das gehört auch nicht zu ihren Aufgaben.
Die Verfasserin denkt an das Foto vom lebenden Gesicht der Inese P., groß und ernst an der Wand. Es wird Aufgabe der Strafkammer sein, alle Beweise zu würdigen.

Der 5. und 6. Verhandlungstag

Videoaufnahmen der polizeilichen Vernehmung des Angeklagten Mariusz L. vor seiner Vorführung vor den Haftrichter werden gezeigt – eine strafprozessuale Neuerung. Seit Anfang 2020 müssen Aussagen von Beschuldigten eines Tötungsdelikts mit Bild und Ton aufgezeichnet werden (§ 136 Abs. 4 StPO). Vorteile für die Wahrheitsfindung und für den Schutz des Beschuldigten soll die audiovisuelle Aufzeichnung  bringen, soll dessen Aussage, Gestik, Mimik, ungefiltert durch die Wahrnehmung des protokollierenden Beamten, wiedergeben. Entziehen kann sich ein Beschuldigter der Aufzeichnung nur, wenn er die Aussage verweigert.

Der Angeklagte Mariusz L. hat gesprochen. Aber heute, am 5. Tag, fühlt er sich krank, so dass die Verhandlung bereits um 10 Uhr unterbrochen wird.

Wieder genesen geht es am 6. Tag mit den mehrere Stunden dauernden Aufnahmen weiter. Die Ausführungen des Angeklagten Mariusz L. mäandern zunächst weitschweifig umher. Mit dem Tod der Frau habe er nichts zu tun, zwei ihm unbekannte Personen hätten den Schlafsack gezogen. Er hat allein in der Garage genächtigt, ist viel zum Flaschensammeln unterwegs, weiß nichts von einem ausgehobenen Loch im Buddelkasten, kennt nur eine andere Frau, die am U-Bahn-Eingang bettelt.

Der Angeklagte macht einen ängstlichen Eindruck, er zittert, Alkohol- Entzugssymptome verneint er. Die beiden Kommissarinnen vom Morddezernat konfrontieren ihn hartnäckig mit den Fakten: Die Tote hat in seinem Schlafsack gelegen. Er und der Angeklagte G. sind von einem unbeteiligten Zeugen, den Leichensack ziehend, erkannt und gestellt worden. Am Buddelkasten findet sich auf dem ausgehobenen Sand sein Schuhabdruck mit einem 'Z', ebenfalls der Abdruck einer Schaufel.
Nach einer Vernehmungs-Rauchpause wird Mariusz L. konkreter. Ja, auch der Angeklagte Pawel G. hat in der Tatnacht in der Garage übernachtet. Ja, manchmal haben sie zusammen Flaschen gesammelt, er, Mariusz L., läuft aber auch allein und auch öfter über den Spielplatz wegen der Plastikflaschen dort.
Frage: Haben Sie die Frau getötet?
Antwort (stark gekürzt und stichworthaft): Habe niemand umgebracht. Bei mir war keine Frau. Vielleicht war eine da, wenn ich nicht da war. Als ich die Tote sah, hab ich gekotzt, so viel Blut, dann bin ich sofort wieder raus. Hab auch keinen Schlafsack gezogen. Vielleicht jemand anders. Pawel kennt viele Leute.
- Es gibt Spuren von Ihnen in der Unterkunft.
- Manchmal spucke ich auf den Boden.
- Gibt auch Schleimspuren. Sperma?
- Pawel hat 'Playboy'.
- Geben Sie Speichelprobe ab?
- Ja, warum nicht.
- Sie sind mit Pawel G. zusammen festgenommen worden.
- Haben uns nur vor REWE zum Biereinkaufen getroffen.
- Schützen Sie ihn?
- Schütze ihn nicht. Habe aber Angst vor ihm. Pawel trinkt alles, wird dann aggressiv, hat in der Garage Hammer, Schraubenzieher, Brecheisen. Hat mich auch schon verprügelt. 
Mariusz L. bestreitet, mit dem Tod der Inese P. zu tun zu haben. Dass Pawel G. damit zu tun hat, glaubt er eher nicht. Der hätte was erzählt. Pawel hat öfter Frauen gehabt, auch Prostituierte. Eine Frau hat er ihm mal vorgestellt, am Alex war das, am Springbrunnen. Hat russischen oder ukrainischen Akzent gehabt. Ob es sich um das Opfer gehandelt hat, weiß er nicht, die Haare waren so rötlich-blond. An dem Tatabend war wohl auch eine da, etwas älter und größer, das hat Pawel erzählt, vor REWE beim Biereinkauf, auch dass der Sex nicht geklappt hat.  Pawel war sehr betrunken.

Am nächsten Verhandlungstag soll die Ermittlungsführerin der Kripo gehört werden. Danach wird der forensisch-psychiatrische Sachverständige sein Gutachten erstatten. Eine Frage wird bleiben: Gibt es niemand, der um Inese P. trauert?

Fortsetzungen am ...
15.09.2020, 9.00 Uhr, Saal 537
18.09.2020, 9.00 Uhr, Saal 537

-> Susanne Rüster <-
Die Verfasserin war langjährig als Staatsanwältin im Kriminalgericht Moabit tätig und ist Autorin u.a. von Polizeiermittler-Krimis.

NJW schreibt:
"Es gibt noch qualifizierte Gerichtsreporter..."
NJW-aktuell - web.report H. 38/2010, S.3




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