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Gerichtsreportagen


Freispruch - "Junge Welt" druckte Redebeitrag der Ex-Terroristin Inge Viett


von von Barbara Keller

03.11..2011, Amtsgericht Tiergarten, Abt. 227
Im Januar 2011 hielt die ehemalige RAF-Terroristin Inge Viett auf einer öffentlichen Konferenz ein mutmaßlich strafrelevantes Referat. Die Tageszeitung "Junge Welt" druckte den Redebeitrag vier Tage vorab unkommentiert in ganzer Länge. Dafür flatterte dem aus Bremen gebürtigen Chefredakteur Dr. Arnold Schölzel (64) ein Strafbefehl ins Haus, dem er widersprach.


Die Hamburger Ex-Terroristin Inge Viett (67) bleibt kämpferisch. Anfang Januar 2011 war die Lorenz-Entführerin als Referentin bei der Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz zur Podiumsdiskussion mit dem Motto "Wo bitte geht’s zum Kommunismus?" geladen. In ihrem Beitrag "Notwendiger Aufbauprozess" erklärte die Referentin, die sich übrigens nie von den bewaffneten Aktionen der RAF distanziert hat: "Wenn Deutschland Krieg führt und als Anti-Kriegsaktion Bundeswehr-Ausrüstung abgefackelt wird, dann ist das eine legitime Aktion, wie auch Sabotage im Betrieb an Rüstungsgütern. Auch wilde Streikaktionen, Betriebs- oder Hausbesetzungen, militante antifaschistische Aktionen, Gegenwehr bei Polizeiattacken..." Auf dem Weg zum Kommunismus sei eine 'kämpferische Praxis' gefragt, bei der die 'bürgerliche Rechtsordnung' kein Maßstab sein könne.

Inge Viett, die nach den Schüssen auf einen Pariser Polizisten 1982 wiederholt in die DDR flüchtete und dort als Eva-Maria Sommer und Eva Schnell getarnt untertauchte, wurde 18 Jahre später, nach der Wende in Magdeburg verhaftet und 1992 wegen versuchten Mordes an einem Pariser Polizisten zu einer Gefängnisstrafe von 13 Jahren verurteilt. Viett kam nach sieben Jahren Haft frei. Der Klassenkampf ist offenbar weiterhin ihr erstes Anliegen.

Vier Tage vor ihrem strittigen Referat im Januar dieses Jahres druckte die Tageszeitung "Junge Welt" (bis 1990 Zentralorgan der FDJ und Massenorganisation der DDR) den Text in vollem Wortlaut ab. Neben Inge Viett geriet deshalb auch Dr. Arnold Schölzel, der Chefredakteur der "Jungen Welt", ins Visier der Staatsanwaltschaft. Gegen Inge Viett wurde im Juni 2011 Anklage wegen mutmaßlicher Billigung von Straftaten erhoben. Dr. Schölzel, der den Vorabdruck der Rede goutierte, erhielt einen Strafbefehl wegen Verstoßes gegen das Berliner Pressegesetz. Er legte dagegen Widerspruch ein und musste sich am 1. November 2011 vor dem Amtsgericht Tiergarten verantworten.

Bevor der Prozess am 2. 11. 2011 in dem kleinen Saal D107 beginnen kann, stellt der Vorsitzende Richter Zacharias erst einmal klar: "Wer keinen Sitzplatz hat, muss draußen bleiben." Das gilt auch für Pressevertreter. Es werde ja schließlich "nichts Bahnbrechendes" verhandelt. Mit einem Kopfschütteln und dem Verweis auf die Sicherheitsbestimmungen wimmelt Zacharias die überzähligen Zuhörer ab. Ein Journalist, der umsonst mit seinem Presseausweis wedelt, erklärt enttäuscht: "Ich hätte trotzdem gern darüber berichtet."

Nach der Anklageverlesung gibt Rechtsanwalt Johannes Eisenberg für seinen Mandanten eine Erklärung ab. In einem kleinen Bildungsausflug verweist der Verteidiger, das Verfahren gegen seine Mandantin Viett vorwegnehmend, auf den Prozess gegen Carl von Ossietzky aus dem Jahr 1932. Der hatte in Abwesenheit Kurt Tucholskys dessen Spruch "Soldaten sind Mörder" als Herausgeber der "Weltbühne" vor dem Charlottenburger Schöffengericht zu verantworten. Ossietzky gewann den Prozess. Die Äußerungen der Inge Viett seien ebenfalls "nackte Meinungsäußerung", so Rechtsanwalt Eisenberg. Er forderte in "lobenswerter Tradition" einen Freispruch für seinen Mandanten.

Dr. Schölzel, so der Medienanwalt, hätte lediglich einen Fremdbeitrag unkommentiert abgedruckt. Damit sich die Öffentlichkeit eine Meinung über die Ansichten der Referentin bilden könne. Schölzel hätte weder dazu "in die Hände geklatscht", noch sich diese Ansichten zu eigen gemacht. Täter aber könne nur der werden, so Eisenberg die herrschende Rechtsmeinung, der selber zu Taten auffordere.

Auf Wunsch des Anklagevertreters erfolgte die Verlesung des Textes in seiner eintönigen Beredsamkeit durch den Vorsitzenden Richter. Der Staatsanwalt forderte hierauf für den bislang unbestraften Dr. Schölzel eine Geldstrafe von 1.600 Euro. Richter Zacharias sprach jedoch den Angeklagten auf Kosten der Landeskasse frei. Dr. Schölzel hätte, so der Richter in seiner Urteilsbegründung, lediglich einen öffentlich gehaltenen Redebeitrag veröffentlicht. Daran sei nichts Strafrelevantes. Auch wenn der Text vier Tage zuvor abgedruckt wurde.

Am 23. November 2011 wird sich auch Inge Viett in dieser Sache vor dem Amtsgericht verantworten müssen. Es ist der zweite Prozessanlauf, nachdem sich die Angeklagte im August mit einem ärztlichen Attest entschuldigt hatte.


Foto: Dr. Arnold Schölzel nach dem Freispruch


NJW schreibt:
"Es gibt noch qualifizierte Gerichtsreporter..."
NJW-aktuell - web.report H. 38/2010, S.3




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