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berlinkriminell.de
Gerichtsreportagen
Defekt im
System
von von
Barbara Keller
Wie die Berliner
Polizei am vergangenen Sonnabend bekannt gab, ist die
hiesige Kriminalitätsrate im Halbjahr 2011 im
Vergleich zum Vorjahr um ganze 8,4 Prozent gestiegen.
Schuld ist, so heißt es in der Pressemeldung, der
sprunghafte Anstieg des 'Erschleichens von Leistungen'.
Diese Schleicherei bezieht sich ausschließlich auf
das 'Schwarzfahren', das, darauf wird explizit
hingewiesen, die BVG wegen eines technischen Defekts im
vergangenen Jahr leider nicht an die Polizei
weiterleitete. Zu früh gefreut im vergangenen Jahr
also. Nicht gemeldet wurden 2010 auch die neun
aufgedeckten Freireisen des Alexander W. (42), der zu den
Tatvorwürfen ratlos erklärte: "Ik kann dit nich
ändern."
Dann betritt Alexander W., ein
großer, hagerer Lockenkopf, in Begleitung seines
Freundes den Gerichtssaal. "In Gerichten, Kirchen und
Moscheen Hut ab!", ranzt sie die Vorsitzende Richterin an.
Alexander W., dazu bedarf es offenbar nicht viel, ist
augenblicklich eingeschüchtert.
Es wird der Richterin schwer, dem mutmaßlich
notorischen Schwarzfahrer die Angaben zu seinen
persönlichen Verhältnissen zu entlocken. Ja, in
Kiel geboren, wohnhaft Schöneberg, hilft sie dem
gelernten Schnellschweißer auf die Sprünge.
Jetzt mit Zuverdienst als Altenpfleger zu seinen
ALGII-Alimenten. Doch seine Wohnanschrift bleibt
Mysterium. Die Vorsitzende fragt ungeduldig: "Na, stehen
Sie denn am Klingelbrett Ihres Hauses?"
Alexander W., so hören wir, begibt sich im Sommer
2010 ungeachtet seiner glücklosen Freifahrten
wiederholt auf Kurzreise auf der Linie U8. Er wird
mehrfach erwischt am Herrmannplatz, Kottbusser Tor,
U-Bahnhof Bodinstraße und auch an der
Leinestraße.
"Was sagen Sie dazu?", fragt die Richterin nach Verlesung
der Anklage Alexander W. Der erklärt resigniert: "Ik
kann dit nich ändern." "Sie haben doch ein
Sozialticket", hält ihm die Richterin vor. "Na klar",
erwidert der Angeklagte darauf munter. "Aber ik war ja
abjestürzt."
'Abjestürzt' heißt bei Alexander W. auch 'auf
Droge' und in Sachen Beschaffung rege auf der U8
unterwegs, zuletzt auch ohne Obdach.
Das soll jetzt anders werden. Alexander W. will einen
Entzug machen. Er nimmt am Methadonprogramm teil,
substituiert ist er noch nicht. "Irgend etwas bewegt
sich", mutmaßt dennoch die Staatsanwältin zu
seinen Gunsten in ihrem Plädoyer. Zwar sei der
Angeklagte mehrfach wegen ähnlicher Delikte in
Erscheinung getreten. Aber es handele sich doch um
'Bagatellkriminalität am unteren Rand'. Ohne eine
Freiheitsstrafe glaubt die Klagevertreterin indessen nicht
auskommen zu können. Sie beantragt deshalb eine
Freiheitsstrafe von vier Monaten, zur Bewährung von
vier Jahren ausgesetzt.
Alexander W., der ohne Rechtsbeistand erschienen ist und
jetzt Gelegenheit hat, ein letztes Wort zu seiner
Verteidigung vorzutragen, bringt hervor: "Ik wees nich,
wat ik dazu sagen soll."
Die Richterin entspricht mit ihrem Urteil
schließlich dem Antrag der Staatsanwältin.
"Trotz großer Bedenken, will ich Ihnen eine Chance
überlassen", erklärt sie und droht: "Kommen neue
Straftaten dazu, widerrufe ich. Ich fackel da nicht
lange!" Für Alexander W. ist das jetzt offenbar die
letzte Chance auszusteigen.
NJW schreibt:
"Es gibt noch qualifizierte Gerichtsreporter..."
NJW-aktuell - web.report H. 38/2010, S.3
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