"Ein Vorsitzender Richter hat seine
Kammer und Schöffen im Griff", sagte eine
Richterin. Richter, das klingt groß und stolz.
Schöffe, das klingt irgendwie 'popelig'. Nach keine
Ahnung. Schöffen, Laienrichter - das sind in
Deutschland Volkspersonen, die ohne juristische
Sachkenntnis Realitätsnähe verkörpern
sollen, wo sich Volljuristen die Paragrafen um die Ohren
hauen. Rund 60.000 soll es von ihnen hierzulande geben.
Ein Schöffe auf 1.383 Deutsche. - (Richter und
Richerinnen gab es 2018 21.339. Übrigens bei einem
Frauenanteil von 46%.)
Zwei Schöffen sind es per Gesetz beispielsweise in
einer Schwurgerichtskammer, wo es um Mord- und
Totschlag, um Kapitalverbrechen, geht. Die
Zweidrittelmehrheit entscheidet. Stellen sich die
Schöffen, übrigens mit vollem Stimmrecht wie
der Berufsrichter, auf die Hacken, kann der Vorsitzende
toben und rasen wie er will. Das Volk entscheidet
(übrigens bei einem Stundenlohn von fünf
Euro).
Das so verkörperte 'Volk' erscheint jedoch in der
Regel recht verschüchtert und verstört zu seinem ersten
Schöffeneinsatz in den labyrinthischen Hallen bar
der Gnade. Meint, bar der Gnade, in auch nur irgend
etwas eingeweiht zu sein. Gerade einmal Uhrzeit und Saal
des Verfahrens wird den ehrenamtlichen Richtern
mitgeteilt. Dass sie in Kürze alles über das
zu richtende Delikt erfahren, wissen die Neueinsteiger
in der Regel nicht. Der Prozess, der öffentlich
verhandelt wird, bringt bereits nach Klageverlesung,
Einlassung des Angeklagten und ersten Zeugenaussagen
Licht in dieses Dunkel.
Bis 1924 gab es in Deutschland als Errungenschaft der
1848er Revolution übrigens Geschworenengerichte.
Zwölf Geschworene entschieden die Schuldfrage,
während das Gericht das Strafmaß festsetzte.
Das wurde aus Kostengründen und wegen juristischer
Unwägbarkeiten des Verfahrensablaufs abgeschafft.
Helmut Caspary ist, wenn auch 'Laienrichter',
längst kein blutiger Anfänger mehr. 2004
begann der Informatiker schüchtern wie jeder neu
Berufene als Hilfsschöffe am Landgericht. Caspary
hatte sich auf einen Zeitungsaufruf hin beworben. Er
sagt: "Ich habe meinen Berufsausstieg sorgfältig
vorbereitet." Und weil sich sein Tennisverein
auflöste, meinte der umtriebige Mann, der auch
Arbeits- und Gesellschaftsrecht an der Humboldt
Universität studierte, vielleicht am Landgericht
ein ehrenamtliches Betätigungsfeld zu finden.
Am Tag seines ersten Einsatzes fragt Helmut Caspary,
Schweißperlen auf der Stirn, einen
Strafverteidiger, wie das hier denn lang gehe. Die Frage
hängt peinlich in der Luft und hängt da
vielleicht noch heute. Caspary sagt selbst von seiner
Tätigkeit: "Schöffen haben an sich nicht so
einen guten Stand. Auch nicht so einen guten Ruf, weil
sie unbeleckt sind."
Das das nicht so bleibt, dazu wollte Helmut Caspary
beitragen und trat dem
Bund ehrenamtlicher Richter bei. Heute ist Schöffe
Caspary Vorstand des Landesverbandes und seit zwei
Jahren als Prozessbeobachter fast täglich auf den
Fluren des Moabiter Kriminalgerichts anzutreffen. Er
betreut und schult Schöffen. Nimmt sie im Gericht
im wahrsten Sinn des Wortes schon einmal 'an die Hand'.
In den jetzt sechs Jahren ist er ein 'Mann der Treppen'
geworden. "Das ist natürlich eine Sportübung",
sagt Caspary. Denn in dem 1906 fertig gestellten
Gebäude sind die Zugänge für
Prozessbeteiligte und Zuhörer getrennt. Doch nicht
nur das. Die auf selber Etage befindlichen
Durchgänge sind verstellt oder vermauert, sodass
für Besucher abenteuerliche Odysseen durch das
Treppenlabyrinth des Gerichts notwendig werden und sie
räumlich praktisch völlig abgeschlossen sind
vom Verfahren.
Vom Prozessverlauf fehlen dem Zuhörer so oft
wesentliche Informationen. "Der Zuhörer sitzt hier auf der Treppe,
kein Stuhl, kein nichts. Bis zu dreißig Leute, 20,
bis 40 Minuten. Keiner weiß, wann es weitergeht.
Es wird geraucht, im Winter ist es eiskalt", berichtet
Caspary. Die Wände der Treppenaufgänge sind
mit Schmähschriften und Hakenkreuzen verziert. Man
wartet, dass es 'Klick' macht und ein Justizbeamter den
Saal aufschließt.
Dabei handelt es sich bei den Zuhörern, sprich der
Öffentlichkeit, ja nicht um Voyeure. Da sind
Angehörige der Angeklagten, der Opfer, Nachbarn,
Kollegen, alte Menschen, auch Kinder. Sie alle
müssen sich dieses Ambiente und diese Umstände
antun. Caspary sagt: "Ein gutes Beispiel ist der Prozess
gegen die Charité-Krankenschwester Irene B. Da
mussten die Kollegen der Frau hier immer hochasten. Eine
alte Frau musste die Treppen rauf- und runtergehievt
werden."
Wenn Caspary über den Fortgang des Verfahrens im
Bilde sein will, eilt er manchmal bei jeder
Unterbrechung der Verhandlung an den Saaleingang, um den Stand der Dinge zu erfahren. Wenn er
Pech hat, ist bei seiner Rückkehr in der
Zwischenzeit sein Platz im Zuschauerraum belegt.
Früher hat sich Helmut Caspary während der
Prozesse immer Notizen gemacht. Er war fasziniert und
ohne jegliche Sonderinteressen. In der Zwischenzeit
weiß er, dass Betäubungsmittel- und
Missbrauchsfälle sind nicht so sein Ding sind.
Für Wirtschaftsstrafsachen könnte er sich eher
erwärmen, sagt er, wenn sie denn nicht so
langwierig wären. Bleiben die spektakulären
und kuriosen Prozesse.
Auch wenn Helmut Caspary längst nicht mehr so
enthusiastisch ist wie am Anfang und auch schon einen
neuen Tennisverein gefunden hat: Er hält dem
Gericht die Stange und bleibt, so lange die Knie
mitmachen als Treppenläufer bei Figur.
Update 24. Mai 2020: Noch immer ist Herr Caspary
'der ewige Schöffe' im Berliner Landgericht.