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aus dem moabiter kriminalgericht


Überfall aus Scham


von Barbara Keller

02. Oktober 2004. Kriminalgericht Moabit. 28. Gr. Strafkammer.
"Wir sehen ja, wohin wir gekommen sind, dass und wie die Menschen das soziale Netz ausnutzen!", wettert die Rechtsanwältin von Gerald M. (44). Gerald M., von Beruf Eisenflechter, jedenfalls wollte nicht zu den arbeitsscheuen 4,3 Millionen arbeitslosen Staatsalimentierten gehören. Nachdem er seinen Job verlor, stapeln sich die Rechnungen, wartet er auf ein Wunder. Als ihm stattdessen die Räumungsklage ins Haus flattert, überfällt er seine Vermieterin, raubt ihr Geld und EC-Karte, schlägt sie mit einem Revolver zu Boden. Die Anklage: gefährliche Körperverletzung und schwere räuberische Erpressung.


Die persönliche Insolvenz wird gern verschwiegen. Jeder hat irgendwo irgendwas zu laufen. Ist furchtbar beschäftigt. Es gibt ehemalige Gutverdiener, die morgens aus Scham, den Job verloren zu haben, in Büros verschwinden, in denen sie lediglich die Zeit totschlagen. Hat die Wirklichkeit sie endlich geflutet. Mit Rechnungen, letzten Mahnungen, folgt dem Tunnelblick die Kurzschlussreaktion. Seltsamerweise hat das Gemeinwesen eher Verständnis für eine "aufrechte" Verzweiflungstat - auch wenn sie andere schicksalhaft schädigt - als für den folgerichtigen Gang zum Sozialamt.

Jedem scheint dieser schlichte, einfache Mann mit dem Holzfällerhemd und dem gepflegten Oberlippenbart Leid zu tun. Ein Mann, der seit seinem 14ten Lebensjahr auf sich selbst gestellt war und dennoch etwas aus seinem Leben machte. Erstaunlich, findet der Psychologe und Sachverständige Winterhalter: "Gerald M. ist ein aufgeräumter, selbstbewusster Mensch."

Mit 16 Jahren hat Gerald M. seine erste Wohnung, lernt bei Woolworth Gabelstaplerfahrer und arbeitet sich zum Maschinisten hoch. Im Jahre 2001 ist er Eisenflechter und macht sich mit zwei weiteren Kollegen selbständig. Die Drei haben euroweit zu tun. Aber als der Kopf der Crew aussteigt, stirbt auch das Projekt. Gerald M. wird arbeitslos. Eine neue Arbeit kann er trotz aller Mühen nicht finden. Das ist im Sommer 2002. Von da an beginnt der soziale Abstieg, als dessen Folge - so Gutachter Winterhalter - der Überfall auf Vermieterin Monika S. gesehen werden muss.

Ende August 2003 bleibt Gerald M. seiner Vermieterin Monika S. bereits ein halbes Jahr die Miete schuldig. Morgens geht er sehr früh aus dem Haus, abends kommt er spät wieder, um ihr nicht zu begegnen. Die Räumungsklage kann er mit diesem Verhalten jedoch nicht abwenden. Am 29. August 2003 hat er einen Termin vor dem Amtsgericht. Die finanziellen Sorgen lassen ihn nicht schlafen. Am Vorabend des 26. August 2003 plant er seine Verzweiflungstat, allein bei sechs Dosen Bier (0,5 l).

26. August 2003 morgens gegen 6:30, Grabbeallee (Pankow). Eigentümerin Monika S. verlässt ihr Haus, in dem sie das Dachgeschoss, ihre Tochter Jessika S. das Parterre bewohnt. Als sie die Haustür öffnet, steht vor ihr Gerald M. Er ist bewaffnet und drängt sie unsanft in ihre Wohnung. Er will Geld, schlägt sie mit dem Pistolenknauf zu Boden. Als Jessika S. ihrer Mutter zu Hilfe eilen will, hält die schwer verletzte Frau sie zurück. Zehn Euro kann Gerald S. in bar erbeuten. Unter Drohungen lässt er die beiden Frauen zurück. Bei sich hat er auch die EC-Karte von Monika S. Was er noch nicht weiß: sie hat ihm die falsche PIN-Nummer genannt. Als Gerald M. das ganze Dilemma und die Vergeblichkeit seines Tuns aufgehen, irrt er ziellos durch die Stadt. Bis zu seiner Verhaftung.

Vor dem Gericht flutet Gerald M. eine Welle der Sympathie entgegen. Wohlwollen bei der Staatsanwaltschaft, auch beim Richter: "Es tut einem schon fast leid, dass Sie hier sitzen." Gerald M.'s bewaffneter Überfall firmiert als "minder schwerer Fall". Das Urteil: drei Jahre und sieben Monate Haft. Der Haftbefehl wird aufgehoben. Fluchtgefahr scheint nicht gegeben. Der Angeklagte zahlt, so eines Tages wieder flüssig, 1.500 € Schmerzensgeld an die Geschädigte.

Monika S., die traumatisiert aus ihrer Wohnung und dem Haus, in dem sie aufwuchs, das ihr gehört, auszog und sich vor nichts mehr fürchtet, als Gerald M. jemals wieder zu begegnen, ist über das Urteil entsetzt. Monika S.: "Niemand braucht in dieser Gesellschaft mittel- oder wohnungslos sein!" Aber Gerald M. empfand offenbar weniger Scham dabei, eine wehrlose Frau zu überfallen, als seine Mittellosigkeit amtlich zu machen. Und fand damit seltsamerweise wohlwollendes Verständnis.



NJW schreibt:
"Es gibt noch qualifizierte Gerichtsreporter..."
NJW-aktuell - web.report H. 38/2010, S.3




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Überfall aus Scham: die Geschädigte Zum Sozialamt zu gehen schämte sich der arbeitslose Eisenflechter Gerald M. Stattdessen überfiel er seine Vermieterin Monika S. (li.), um sie auszurauben.


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