aus dem moabiter kriminalgericht
Kammergericht zeigt Gesicht
von Barbara Keller
06. Mai 2004. Berliner Kammergericht. Am 6. Mai 2004 lud die oberste Berliner Justizbehörde, das Kammergericht, die Presse. Erstmals in ihrer 500jährigen Geschichte legte sie der Öffentlichkeit einen Tätigkeitsbericht vor. Das Interesse war mager, das vorgestellte Material umfänglich. Alt: die Zahl der Berufungen und Revisionen in Strafsachen nimmt rapide zu, die der Zivilprozesssachen ab. Trotzdem dauert die Erledigung der zu Bestand mutierten Zivilsachen weiterhin 12 Monate. Neu: die Berufungen in Familiensachen stiegen seit 1998 um ca. 25% - ein soziales Fänomen.
Die deutsche Justiz hat neben dem "Beamtentum an sich" in deutschen Kaffee- und Bierstuben nicht unbedingt den besten Ruf. Zur Erklärung sei auf Kontinuitäten in ihren Reihen seit dem Ende des Dritten Reiches hingewiesen,
auf mangelnde Transparenz, teils unpopuläre Urteile und die allseits bekannte Tatsache, dass nicht zwingend der vor dem Kadi Recht erhält, auf dessen Seite es eigentlich steht.
Ist der Ruf auch ruiniert - für Transparenz und Vertrauen kann einiges getan werden. So dachte wohl das Berliner Kammergericht, als es beschloss, erstmalig seit Bestehen dieser Instanz ... und das liegt immerhin circa 500 Jahre zurück ... der Öffentlichkeit einen Tätigkeitsbericht vorzulegen. (*)
Das Kammergericht verwaltet als oberste Berliner Justizbehörde das Landgericht Berlin und die Berliner Amtsgerichte. In Sachen Rechtssprechung ist es zuständig für Berufungs- und Revisionsverfahren, die gegen Urteile der Amts- und Landesgerichte angestrengt werden. Das Kammergericht - bundesweit eigentlich: Oberlandesgericht - hat 28 Zivil- und fünf Strafsenate.
Seit Wegfall des Berliner Sonderstatus und der "Wiedervereinigung" 1990 residiert das Kammergericht wieder in seinem Gebäude am Kleistpark. Hierher lud es die Pressevertreter, um sich, seine Aufgaben, Arbeitsweise und statistisches Material zur Behörde vorzustellen.
Interessant war daran zunächst: das öffentliche Desinteresse. Ganze sieben Journalisten fanden den Weg in die Behörde. Sei es, dass das Kammergericht den Journalisten in Funktionsweise und ihrer Historie vertraut ist und statistische Materialien auch über die Pressestellen abrufbar sind, sei es, dass man sich seine Vorurteile nicht kaputt machen will oder sensationelle Neuigkeiten nicht zu erwarten sind.
Eine kurze Zusammenfassung. Trotz Zivilprozessreform (2002), Rückgang der Berufungen und teils aufgearbeiteter Bestände haben Verfahrensbeteiligte beim Kammergericht in puncto Zivilsachen weiterhin mit einer Bearbeitungsdauer von einem Jahr zu rechnen. Die Anzahl der eingehenden Berufungen gegen Urteile der Amts- und Landesgerichte halten sich die Waage mit den noch unerledigten Verfahren. - Neu: Im Bereich der Familiensachen, d. h. Streitigkeiten um Kinder und Unterhalt, bemühen die verfahrensbeteiligten Parteien zunehmend höhere Instanzen. Innerhalb von fünf Jahren stiegen die Berufungen in diesem Bereich um ein Viertel.
Bei den Strafsachen liegt die Erledigungsquote der Revisionen und Berufungen hoch, die der anhängigen Verfahren auf gleich niedrigem Niveau. Zugenommen haben die Beschwerden von Strafgefangenen gegen die Versagung vorzeitiger Haftentlassung.
Zur Personalpolitik der Behörde sei zu sagen: bis auf einige Entlassungen von Richtern (zehn Richter 2004 - Pensionierung, Vorruhestand) läuft das Einstellungs- und Beförderungkarussell auf kleiner Flamme weiter. Und so wundert nicht, dass auch die Ausgaben der Behörde nicht nur in diesem Bereich klein aber fein steigen. Um rund 6 Millionen Euro jährlich.
Zu den populären erledigten und noch offenen Verfahren: Die als nächstes durch das Kammergericht zu bewältigenden Verfahren (2004/2005) werden unter anderem der Musterprozess um die Mauergrundstücke, die anhängigen Verfahren zum "Berliner Bankenskandal" und der "Al Qaida-Prozess" (angeklagt ist der Tunesier Ihsan G.) sein.
Erledigt: Auf freien Fuß kam im Dezember 2003 EGON KRENZ durch einen Beschluss des 5. Strafsenats. Der Senat setzte den kümmerlichen Rest der Haftverbüßung des Ex-Mitglieds des Nationalen Verteidigungsrates der DDR zur Bewährung aus. EGON KRENZ war wegen Tötung von vier Flüchtlingen an der Grenze zum Westteil Berlins angeklagt und 1997 durch das Landgericht zu sechs Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt worden.
Zuletzt: Das um familienfreundliche Personalpolitik bemühte Kammergericht (Projekt: "Audit Beruf & Familie") hat derzeit 1.700 Referendare in Ausbildung - Rechtsanwälte, Richter, Staatsanwälte in spe. Tendenz seit 2001 wieder steigend. Und: im September 2004 geht die Frucht des Buchprojekts "Jüdische Richter am Kammergericht nach 1933", herausgegeben von der Kammergerichtspräsidentin Monika Nöhre, an die Öffentlichkeit.
(*) Auf dem Foto (v.l.n.r.): Dr. Bernd Pickel (Vizepräsident), Monika Nöhre (Präsidentin des Berliner Kammergerichts), Ilona Wiese (Pressesprecherin), Arnd Bödeker (Pressesprecher)
NJW schreibt:
"Es gibt noch qualifizierte Gerichtsreporter..."
NJW-aktuell - web.report H. 38/2010, S.3
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