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aus dem moabiter kriminalgericht
Im Zweifelsfall ... Unfall
von Barbara Keller
27. April 2004. Kriminalgericht Moabit.
Richter Dr. Peter Faust sagt es in seiner Urteilsbegründung selbst: das Urteil gegen Marcel M. enttäuscht und muss für den Vater des toten Sebastian H. unerträglich sein. Mit neun Monaten Haft wird ein Tötungsdelikt bestraft, deren Todesursache angeblich strittig ist. Hat Marcel M. auf einen Sterbenden eingedroschen?
(1. Prozesstermin)
Tag und Nacht belästigt Marcel M. (23) seine ehemalige Freundin Mandy N. (18), wird immer wieder tätlich gegen sie. Angeblich will er nur das Sorgerecht für das bei Pflegeeltern lebende, gemeinsame Kind mit ihr klären. Zahlreiche Anzeigen liegen bei der Polizei gegen ihn vor. Als er Mandy N. bei einer Streiterei in den Bauch tritt, verliert sie ihr Kind. Sie ist im dritten Monat schwanger. Sebastian H. - ein Kumpel von Mandy N. weist Marcel M. in die Schranken, als er sie wieder einmal schlagen will. Aber eigentlich unterliegt Marcel M. einem polizeilichen Platzverweis.
In der Nacht vom 15. zum 16. Oktober 2004 ist Marcel M.s Klärungsbedarf wieder groß. Bereits früh am Morgen ruft er mehrmals an, droht. Beschädigt das Küchenfenster seiner ehemaligen Freundin mit Steinwürfen. Auch in dieser Nacht gibt Mandy N. eine Anzeige bei der Polizei auf. Schließlich kommt Marcel M. noch einmal. Jetzt will er sich den Eintritt erzwingen. Durch das Parterrefenster sieht er Beschützer Sebastian H. neben Mandy N. im Bett liegen. Da dreht er durch, schlägt mit bloßer Hand die Fensterscheibe ein. Im Nu stürzt er auf Sebastian H. los, der direkt unter dem Fenster schläft. Er prügelt auf den Schlafenden ein.
Nach eigenen Aussagen torkelt Sebastian H. nach dem ersten Schlag schlaftrunken hoch mit dem Ausruf "Oh, Mann!" Mit dem zweiten Schlag prallt er mit dem Kopf gegen Wand oder Heizung, regt sich nicht mehr. Marcel M. schlägt weiter. Marcel M.: "Als er anfing, aus Nase und Mund zu bluten, habe ich aufgehört."
Mandy N. wird irgendwann einmal im Beisein eines Polizeibeamten geäußert haben, dass Sebastian H. während des Heimwegs von der Disko gestürzt sein soll. In späterer offizieller Vernehmung nimmt sie diese Bemerkung in der Version zurück. Dennoch bleibt sie für Richter Dr. Peter Faust* und die erkennende Strafkammer das Haar in der Suppe, der begründete Zweifel, der das Gericht zugunsten des Angeklagten entscheiden lässt. Denn: möglicherweise war ja der ominöse Sturz die Ursache des zum Tode führenden Blutgerinnsels im Gehirn Sebastian H.s.
Am 27. April 2004, dem zweiten Prozesstermin wird die Beweisaufnahme abgeschlossen, die Plädoyers beginnen. Der Staatsanwalt erkennt auf Körperverletzung mit Todesfolge und fordert eine Haftstrafe von vier Jahren und neun Monaten unter Beibehaltung der Untersuchungshaft. Auch der Vater des toten Sebastian H. nimmt das Wort. Zornig aber gefasst geht er auf die Anklagebank zu und hält Marcel M. das Foto seines Sohnes hin: "Das war mein Sohn. Jetzt ist er nur noch ein Haufen Asche." Der Anwalt der Nebenklage fordert eine Verurteilung wegen Totschlags, was ein Strafmaß von mindestens fünf, im minder schweren Fall von ein bis zehn Jahren Haft zur Folge hätte.
Richter Faust, der eine verbale Fehde mit dem Publikum - vor allem Freunde des toten Sebastian H. - führt, und seine Strafkammer lassen sich nicht beirren. Innerhalb einer halben Stunde ist das Urteil gefunden und gesprochen: Dass der Sturz des Opfers vor der Prügelattacke des Angeklagten Ursache seines Todes war, kann angeblich nicht ausgeräumt werden. Drei Monate Haft wegen Sachbeschädigung, neun Monate wegen Körperverletzung gegen Sebastian H., sechs Monate wegen Körperverletzung gegen Mandy. N. Zusammen: ein Jahr Haft, ausgesetzt auf drei Jahre Bewährung. Womit Marcel M. umgehend auf freiem Fuß wäre. Als das Publikum daraufhin schimpfend, protestierend und Türen knallend den Saal verlässt, ist Richter Faust blass vor Wut: "Die Formen der Idiotie sind vielfältig." Lässt er sich vernehmen.
An dem Urteil der 22. Strafkammer unter Vorsitz von Richter Peter Faust werden viele Menschen noch eine zeitlang zu kauen haben. Er sagt es selbst in der Urteilsbegründung: "Es ist mir klar, dass das Urteil nicht befriedigt und für den Vater des toten Sebastian H. unerträglich ist."
*(Vorsitzender des Landesverbands Berlin des Deutschen Richterbundes, Vorsitzender Richter am Landgericht)
NJW schreibt:
"Es gibt noch qualifizierte Gerichtsreporter..."
NJW-aktuell - web.report H. 38/2010, S.3
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Mandy N.
Die "Bagatelle" in der Frankfurter Allee, Stammkneipe von
Marcel M. + Mandy N.
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