Nachdem Sebastian P. die Ausführungen der Ärzte des Virchow-Klinikums am zweiten Tag der Hauptverhandlung gehört hat, möchte er sich erklären. Der schlanke Mann mit dem schlabbrigen, hellblauen Jeanshemd über dem grünen T-Shirt, dem streng nach hinten gebundenen Zopf und der Brille wirkt aufgeregt. Er spricht schluchzend, abgehackt. Sein gebrochenes Deutsch ist kaum zu verstehen. Der vorsitzende Richter bittet den weinenden Mann, in seiner Muttersprache, Französisch, zu sprechen und sich übersetzen zu lassen. Nun sprudelt es aus ihm heraus.
"Das kann nicht sein!", erklärt der Angeklagte. David sei sein eigen Fleisch und Blut. Wenn es ein erwachsener Mann sei. Das wäre ihm egal. Nein, reden kann er nicht. Das hat Sebastian P. bei der Fremdenlegion gelernt. Dass man alles bei sich behält.
Deshalb kann er den Pastor, dem er alles erzählt hat, auch nicht von der Schweigepflicht entbinden. "Ich habe volles Vertrauen in die katholische Kirche!", erklärt er und: "Ich bin Christ!" Innerhalb der letzten beiden Tage, in denen er nicht schlief, so der aus dem vornehmen Saint-Germain- Laye gebürtige Mann, hat er zweimal das Neue Testament gelesen. "Das hat mir auch nicht geholfen", klagt er.
Der vorsitzende Richter Nötzel lässt sich nicht beirren. "Wir waren schon einmal weiter", unterbricht er nüchtern den Redeschwall des Angeklagten. Doch Sebastian P. bleibt bei seiner Blackout-Version: "Ich habe David das Bett gemacht im Wohnzimmer, das war's. Mehr weiß ich nicht." Und mehr will Sebastian P. offenbar auch nicht wissen. Er sagt: "Ich habe Angst, zu wissen, was passiert ist. Ich bin ein sehr aggressiver Mensch."
In der Fremdenlegion will Sebastian P. allerdings gelernt haben, sich zu beherrschen. Wiederholt spielt er auf seinen vorgeblichen Dienst bei der berüchtigten Sondertruppe der französischen Streitkräfte, der Légion Étrangère, an. Doch Richter Nötzel meldet sachliche Bedenken an gegen die Legionärsgeschichte mit Folgen. Soviel bekannt, hält er Sebastian P. vor, war der heute Angeklagte zu dieser Zeit in Deutschland als französischer Soldat stationiert.
Sebastian P., der sich 1992 noch nicht volljährig in französisch Guayana verdingt haben will, bleibt jedoch dabei. Er sagt: "Ich war im Libanon und in Afghanistan im Einsatz. Inoffiziell, unter falschem Namen. Mehr darf ich nicht sagen. Das habe ich unterschrieben." - Soweit die Einlassungen von Sebastian P., der am zweiten Tag der Hauptverhandlung allerdings auch verzweifelt einräumt: "Das kann nur ich gewesen sein, der das gemacht hat."
'Das' sind die lebensgefährlichen Verletzungen, die sein im Oktober 2008 erst drei Monate alter Sohn David in der besagten Nacht davontrug. Ein Schädelbruch, der zum Morgen hin ein sichtbar graublaues Hämatom seitlich des Kopfes und ein für Schädelhirntraumen typisches 'Brillenhämatom', blaue Augen, verursachte.
Doch Sebastian P., der die ganze Nacht unter dem abwechselnden Geschrei der Zwillinge litt, wie er zugibt, und nur drei Stunden schlief, hielt den gesundheitlichen Zustand seines Sohnes am Morgen darauf nicht für bedenklich. Als die Oma, die übrigens im Parterre vis-à-vis wohnt, den Enkel vormittags abholt, will sie mit David sofort ins Krankenhaus. Das heiße Köpfchen und dass der Säugling schreit, auch wenn er gestreichelt wird, hält sie für bedenklich.
Sebastian P. wiegelt ab. Das ist normal, der kriegt Zähne, sagt er. Doch auch die Mutter Christiane H. (34), die in der Wohnung über ihrem Ex-Partner wohnt, hält die sofortige Fahrt in ein Krankenhaus für erforderlich.
Im Virchow-Klinikum stellen die Ärzte eine frische Schädelfraktur, eine zwei bis mehrere Tage alte weitere Schädelfraktur und Rippenbrüche älteren Datums fest. David muss intensivmedizinisch betreut werden und schwebt zwei Tage in Lebensgefahr.
Die Ärzte des Klinikums benachrichtigen die Polizei wegen des Verdachts der Kindesmisshandlung. Kurz darauf wird das Elternpaar verhaftet. Christiane H., gegen die sich der Verdacht allerdings nicht erhärtet, kommt einen Tag später auf freien Fuß. Die Mutter zweier weiterer Kinder bricht jeglichen Kontakt zu Sebastian P. ab. Der seinerseits respektiert das Kontaktverbot zu seinen eigenen drei Kindern.
Folgeschäden wurden bei dem inzwischen genesenen David bislang nicht ausgemacht, sind mit Sicherheit aber auch nicht ausgeschlossen.
Der Prozess wird am 21. April 2009 um 13:00 im Saal 701 fortgesetzt.