aus dem moabiter kriminalgericht
Was es ist ...
von Barbara Keller
16. April 2004. Kriminalgericht Moabit.
Am 16. Oktober 2003 morgens gegen 8:00 zerschlägt Marcel M. (23) blind vor Wut die Fensterscheibe der Parterrewohnung seiner ehemaligen Freundin Mandy N. (damals 18) und steigt ein. Sie hat ihren gemeinsamen Sohn zu Pflegeeltern gegeben. Er will das rückgängig machen, mit ihr klären und zum Jugendamt gehen. Doch Mandy. N. liegt mit Kumpel Sebastian H. nach einer durchzechten Nacht im Bett. Marcel M. prügelt auf den schlafenden Sebastian H. ein. Vier Tage später ist Sebastian H. tot.
(2. Prozesstermin/Urteil)
Tatort Dolziger Straße, Friedrichshain. Man fahre mit der U5 (Richtung Hönow) vom Alexanderplatz zur Samariterstraße. Zwei Haltestellen vor der Magdalenenstraße, dem ehemaligen Mielke-Stasihauptquartier, heute sinniger Weise Arbeitsamt Nord. Man steige aus und lasse den Gedenkstein für den im U-Bahnfußgängertunnel von rechtsextremistischen Jugendlichen ermordeten Silvio auf sich wirken.
Milieu
An frischer Luft findet man sich unvermittelt im unbeschädigten Berliner Arbeitermilieu des Ostens wieder. Die Samariterstraße hoch begegnet dem Passanten ein soziales Gemisch aus notorischen Sozialhilfeempfängern, Hausbesetzern mit Hunden, eingeborenem Friedrichshainer Proll aber auch gutbürgerlich westdeutschen Berlin-Einsteigern. Letztere wohnen in der auf die Samariterkirche mündenden, gepflegten Bänsch-Promenade. Sie haben ihren Ökoladen mitgebracht.
In der Dolziger, eine Querstraße zur Samariterstraße, ist der Berliner proletarischen Ursprungs noch weitgehend unter sich. In der Nummer 47 mahnt unter dem Parterrefenster in großen, schwarzen Lettern "Es ist, was es ist, sagt die Liebe ... " mit einem Herzen als Apostroph. - Die Anfangszeile eines wunderbaren Gedichts von Erich Fried. Populär in jede deutsche Stube gebracht durch die Sängerin Mia.
Nur kurz: komplett und heil
Hier, in der Parterrewohnung der Dolziger 47, ereignete sich im Oktober 2003 jene Tragödie, von der es am nächsten Tag in der Berliner Zeitung hieß: "Mann prügelte Freund seiner Exgeliebten fast tot." - Fast. Vier Tage später starb der mit Fausthieben traktierte Sebastian H. in Folge Hirntodes. Marcel M., seit dem 16. Oktober 2003 in Haft, muss sich deshalb wegen Körperverletzung mit Todesfolge vor Gericht verantworten.
Als sich Mandy N. (19) und Marcel M. (24) kennen lernen, ist Mandy N. erst 16 Jahre alt. Marcel M. stammt aus problematischen Familienverhältnissen. Die Mutter, Krankenschwester, ist seit seinem dritten Lebensjahr gelähmt und an den Rollstuhl gefesselt. - Sein Vater, Eisenflechter ist Alkoholiker. Marcel M. muss zu Hause kräftig mit anfassen, Verantwortung übernehmen. Er schließt eine Lehre als Maler und Lackierer ab und findet über eine Leiharbeitsfirma einen festen Arbeitgeber.
Schon nach einem Jahr gemeinsamen Honeymoons wird Sohn Steven geboren. Marcel M. strahlt vor Glück. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlt er sich komplett und heil. Die Beziehung der Beiden ist es jedoch weniger. Während Mandy für Marcel M. die erste große Liebe seines Lebens bedeutet und Marcel mit ihr eine richtige Familie gründen möchte, fühlt sich Mandy N. mit der Situation völlig überlastet.
Sie geht fremd, bleibt den einen oder anderen Tag, dann auch mal eine ganze Woche ohne Vorwarnung weg. Marcel M. macht, was er immer tat: er kümmert sich. Er kümmert sich um Sohn und Haushalt. Aber er schlägt Mandy dafür. Die Situation schaukelt sich hoch. Immer wieder ist auch Alkoholmissbrauch im Spiel. Zwei Wochen vor dem folgenschweren Tag trennt sich Marcel M. schließlich von Mandy N. Dass seine Freundin ihren gemeinsamen Sohn Steven an Pflegeeltern abgibt, übersteigt sein Fassungsvermögen.
Durchschnittsintelligenter Bodensatz
Am 15. Oktober 2003 sitzt man gemeinsam in der "Bagatelle". Einer Kneipe in der Frankfurter Allee, in der sich nach Meinung des psychiatrischen Sachverständigen Dr. Werner Ascherl der "durchschnittsintelligente Bodensatz der Gesellschaft" tummelt. Wo Schlägereien in oder vor dem Lokal die Tagesordnung sind und Alkohol auch an Minderjährige ausgeschenkt wird. Gemeinsam heißt: Mandy N. und deren Mutter, Kumpel und Beschützer Sebastian H., Marcel M., Patrick N. und ein weiterer Bekannter. Wieder hat Marcel M. kein anderes Thema als seinen Sohn Steven. Um 2:00 räumt er mit ca. fünf Bier intus das Feld, denn er muss um 5:00 wieder aufstehen.
Als ihn sein Vater weckt, entschließt sich Marcel M., die Arbeit abzusagen und zum Jugendamt zu gehen. Das macht allerdings erst um 8:00 auf. Und so schaut Marcel M. noch einmal bei Mandy vorbei, um über die Sache zu reden. Die aber ist nach einer durchzechten Nacht gerade erst ins Bett gefallen. Bei ihr sind Sebastian H. und Patrick N. Sebastian H. liegt neben ihr im Bett auf der Fensterseite. Reichlich betrunken. Auf das Klingeln, Klopfen und Rufen Marcels reagiert keiner der Drei.
Um 8:00 beobachtet ein Passant den außer sich vor Wut rasenden, schreienden Marcel M., wie er die Rollos der Parterrewohnung hochzieht und mit bloßer Hand die Fensterscheibe einschlägt. Der Zeuge ruft die Polizei.
Als die Scherben auf sie niederprasseln, wird Mandy N. wach. Gerade stürzt sich Marcel M. auf den schlafenden Sebastian H. und prügelt auf ihn ein. Der kommt einmal hoch, ruft "oh, Mann!" und knallt nach einem weiteren Schlag mit dem Kopf gegen die Wand. Marcel M. prügelt weiter, bis Sebastian H. Blut aus Mund und Nase quillt. Schließlich verpasst er auch Mandy noch einen Schwinger und dann ist der Wutrausch verpufft. Alles das geschieht in nur wenigen Minuten.
Als die Polizei auftaucht, sitzen Mandy N., Bruder Patrick N. und Marcel M. rauchend auf dem Sofa. Die Polizeibeamtin Susan H. vermutet häusliche Gewalt und fragt Mandy N., ob sie Hilfe benötige. Marcel M. antwortet ungefragt: "Nee, aber vielleicht der Nebenan."
"Der Nebenan" hat in der Zwischenzeit weder Puls noch Atmung und muss reanimiert werden. In Folge einer schwerwiegenden Hirnverletzung stirbt Sebastian H. drei Tage später im Krankenhaus Friedrichshain.
Klarer Fall
Körperverletzung mit Todesfolge? Wenn es denn so einfach wäre. Die Obduktion des Verstorbenen ergibt, dass keiner der Schläge, sondern ein Aufschlag Folge der Hirnverletzung war. Die Schläge, die Marcel M. austeilte, waren alle nicht kräftig genug, Sebastian H. zu töten. Sebastian H.s Gesicht wies zudem weder Schwellungen noch blaue Flecken auf.
Nun berichtet Mandy N., ihr betrunkener Begleiter sei auf dem Nachhauseweg gestürzt. Der Gerichtsmediziner räumt ein, dass die Hirnverletzung auch auf ein früheres Ereignis zurückzuführen sein könnte.
Trotzdem Richter Dr. Peter Faust den Prozess mit allen Mitteln forcierte, kam es am Freitag zu keinem Urteilsspruch. - Einer der Hauptzeugen, Patrick N., ist seit zwei Wochen spurlos verschwunden. Seine Aussage wird jedoch von einigem Ausschlag sein. Zur Debatte steht eine Freiheitsstrafe von drei Jahren und mehr.
NJW schreibt:
"Es gibt noch qualifizierte Gerichtsreporter..."
NJW-aktuell - web.report H. 38/2010, S.3
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