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aus dem moabiter kriminalgericht
Muss nicht sein, kann sein, weiß nicht mehr ...
von Barbara Keller
08. April 2004. Kriminalgericht Moabit. Im November 2003 stößt Langfinger Daniel S. (24) den hilfsbereiten Marko K. (33) wegen 31,50 € auf die Bahngleise des S-Bahnhofs Prenzlauer Allee. Die S-Bahn verkehrt hier im Fünf-Minuten-Takt. Nur durch ein Wunder passiert nichts. Wie schuldfähig ist der kleinkriminelle, akut schizophrene Dieb, der behauptete, bereits am Bau der Pyramiden beteiligt gewesen zu sein?
Jens W. (34) ist ein kräftiger, gepflegter Jeanstyp mit mittelblonden, glatten, zu einem Pferdeschwanz gebundenen Haaren. Er lebt im Prenzlauer Berg und ist derzeit arbeitslos. Am 15. November vergangenen Jahres geht er nachmittags Kleinigkeiten im Pennymarkt einkaufen. Neben seinen Papieren hat er 40 € bar einstecken.
Auf dem Rückweg sieht er beim Lottoladen am S-Bahnhof Prenzlauer Allee rein (siehe Fotos oben). Er kauft zwei Rubbellose. Am Stehtisch in der Ecke legt er sein Portemonnaie neben sich und rubbelt. Ein Freilos. Als er zum Tresen gehen will, um Los Nummer Drei zu holen, ist seine Geldbörse weg. Mit seinem Bemerken: "Jetzt haben sie mir auch noch mein Portemonnaie gezockt", erntet Jens W. beim Verkäufer und der anwesenden ältlichen Kundin freundliches Desinteresse.
Das Geld hat Jens W. sofort abgeschrieben. Jetzt geht es nur noch um die Papiere. Schnell sucht er die umliegenden Papierkörbe nach seiner Börse ab. Er hofft, der Dieb begnügt sich mit dem Bargeld und wirft den Rest weg. Auf dem S-Bahnsteig sieht er Langfinger Daniel S. mit seinem Portemonnaie seelenruhig auf einer Bank sitzen und das Geld zählen. Auf die Geldbörse angesprochen, rückt Daniel S. sofort das Beutegut heraus. Das Geld allerdings will er nicht hergeben. Als sich der hinzukommende Marko K. einmischt: "Soll ich die Polizei holen?", kulminiert die Situation.
Daniel S., der keine Fluchtmöglichkeit sieht und keine Chance, an Marko K. vorbeizukommen, geht in die Offensive: "Verpiss dich, du schwule Sau!" Sein Faustschlag geht fehl. Da stößt er sein völlig überraschtes Gegenüber auf die Gleise. Auf denen verkehrt die S-Bahn im Fünf-Minuten-Takt. Marko K. gelingt es jedoch, den Stoß in einen gezielten Sprung zu wandeln und landet mit beiden Beinen auf einer der Querbohlen zwischen den Schienen. Mit einem Satz ist er wieder auf dem Bahnsteig und jagt hinter Daniel S. hinterher.
Die Verfolgungsjagd dauert höchstens 5 Minuten. Die Treppen zur S-Bahnbrücke hinauf, ein Stück Prenzlauer Allee. An der Ahlbecker Straße 4 stellt Marko K. den völlig erschöpften, resignierten Dieb. Kurz darauf kommt auch schon die Polizei.
Am 8. April 2004 muss sich Daniel S. wegen räuberischen Diebstahls vor Gericht verantworten. Da sitzt er bereits fast fünf Monate in U-Haft. Erst in Moabit, dann im Krankenhaus des Maßregelvollzugs Berlin (KMV). Eine schwierige Ermittlungslage gab es allerdings nicht. Daniel S. räumt den Diebstahl ein. Auch wenn von ihm während der Verhandlung wenig mehr als "ich weiß nicht, kann sein, daran kann ich mich nicht erinnern ... " zu hören ist. Der Fall ist klar, nur das anzusetzende Strafmaß strittig.
Das Problem, mit dem sich das Gericht herumschlägt: Daniel S. leidet - und damit auch die Umwelt - an (s)einer schizophrenen Psychose. Dabei blickt der von seinen Eltern erziehungstechnisch frühzeitig aufgegebene junge Mann bereits auf eine durchaus beachtliche (klein-)kriminelle Karriere zurück. Sein Wohnumfeld überzog der äußerlich als verwahrlostes Schlingensief-Double durchgehende Mitzwanziger mit häufigen, kriminellen Übergriffen. (Daniel S. wohnt in der Lettestraße am Eberswalder Bahnhof/Prenzlauer Berg.) Dazu zählen Keller-, Wohnungs- und Bodeneinbrüche, einfache und weniger einfache Diebstähle.
Etwas mehr Geld brachte die Geschäftsidee des bandenmäßigen Ausraubens von vietnamesischen Zigarettenhändlern. Zu Daniel S.s weltanschaulicher Grundhaltung und das seiner Kumpane zählt rechtextremistisches Gedankengut. Aggressive körperliche Übergriffe gab es bisher nicht. Zum Angriff auf Markus K. erklärt Daniel S.: "Ich habe fast einen Herzstillstand gekriegt, als der K. rief ´Ich hole die Polizei!´!"
In akuten Phasen seiner Erkrankung wollte Daniel S. schon den Dritten Weltkrieg nach Deutschland holen, behauptete, am Bau der Pyramiden beteiligt gewesen zu sein, im 15. Jahrhundert sei seine Frau erschossen worden und als Einzelkind mit Zwillingsschwestern gesegnet zu sein.
Gutachter Dr. Werner Platz, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie - Suchterkrankungen im Vivantes Humboldt-Klinikum, stellt bei Daniel S. eine akute Psychose fest. Eine nicht behandelte, jetzt ausgewachsene Jugendschizophrenie. Der Patient ist seines Erachtens für die Allgemeinheit eine Gefahr, eine Eskalationen wie in dem verhandelten Fall denkbar und deshalb die Einweisung in die "Geschlossene" geboten.
Um sich jedoch mit dem § 63 behelfen zu können, d. h. Daniel S. mittels Schuldunfähigkeit (§ 20) oder verminderter Schuldfähigkeit (§ 21) in ein psychiatrisches Krankenhaus einzuweisen, bedurfte es der Feststellung eines direkten Zusammenhangs zwischen der Erkrankung und der Tat. Die konnte von Dr. Platz nur unter Mühen erbracht werden. Mit "indirekter Brückenfunktion" der Krankheit umschrieb der Experte die Sachlage.
Das Urteil fällt entsprechend aus. Wegen räuberischen Diebstahls, versuchter gefährlicher Körperverletzung und Beleidigung wird Daniel S. zu einem Jahr und acht Monaten Haft verurteilt. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus wird angeordnet. Eine Bewährung kommt mangels positiver Sozialprognose nicht in Betracht.
Auf eine Entschuldigung seitens des Angeklagten wartete Markus K. natürlich umsonst. Dafür würdigte die Richterin ausdrücklich sein mutiges Eingreifen und wünschte mehr Berliner Zivilcourage. Nicht nur in Form dieses bühnenreifen Stands.
NJW schreibt:
"Es gibt noch qualifizierte Gerichtsreporter..."
NJW-aktuell - web.report H. 38/2010, S.3
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S-Bhf. Prenzlauer
Allee - hier stieß Daniel S. den hilfsbereiten Marko K. auf die Schienen
in der Ahlbecker Straße
4 konnte Marko K. den flüchtenden Dieb - Daniel S. - stellen
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