Rentnerin Annemarie E. blickt auf ein bewegtes, arbeitsreiches Leben zurück. Die ehemalige Buchhalterin zog sechs Kinder groß. Jetzt im Alter hat Annemarie E. sich einen kleinen Dackelmix zugelegt. Mit "Bongo" geht die bis vor kurzem noch als Leih-Oma engagierte, korpulente Frau täglich vormittags um 11:00 für 20 Minuten auf den Hof spielen.
Weit laufen kann Annemarie E. nicht mehr. Die gesundheitlich angegriffene, korpulente Frau ist Bluterin, leidet unter offenen Beinen und behilft sich mit einem Stock. Annemarie E. lebt in der Paul-Grasse-Straße, die mit der Ostseestraße im Prenzlauer Berg
("Spitze") eine stille Wohnanlage säumt. Hier wohnt vor allem alteingesessener Ost-Berliner Mittelstand fortgeschrittenen Alters. Seit neuem gibt es hier aber auch Eigentumswohnungen, in denen sich zugereiste junge Paare einrichten.
Doktor Seltsam
In dem Wohnriegel gegenüber bewohnt seit einiger Zeit der aus Süddeutschland gebürtige Dr. Alexander K. eine Einzimmerwohnung. Über den arbeitslosen Doktor, der sehr viel Wert auf die Nennung seines Titels legt, kursieren einige Flurgerüchte. Kein Wunder. Denn der selten gesehene Mieter lebt sehr zurückgezogen. So gut wie nie soll er ausgehen. So gut wie nie soll Licht in seiner Wohnung brennen.
Dr. Alexander K. stört das Bellen von Dackelmix "Bongo" in der späten Vormittagsstunde. Täglich vielleicht 20 Minuten, in denen Annemarie E. mit ihrem Hund Ball spielt. Als alle bösen Worte nicht helfen, soll Dr. K. eines Tages mit Pflastersteinen nach "Bongo" geworfen und auch getroffen haben. Sagt Annemarie E. Während "Bongo" getroffen aufjault, schickt sie dem aus Süddeutschland zugereisten Doktor eine Salve Schmähworte hinauf auf den Balkon. Die will Dr. K. nicht auf sich sitzen lassen.
"Soll ich dir eine scheuern?"
Am 28. Oktober 2007 lauert Dr. Alexander K. der alten Frau vor deren Haus auf. Annemarie E. erscheint erwartungsgemäß Schlag 11:00 mit ihrem Dackelmix "Bongo" vor der Haustür. Sie wird von einem jungen Paar mit Kind aus der Nachbarschaft von der anderen Straßenseite gegrüßt. Kurz darauf tritt der gekränkte Doktor hinter der Müllanlage hervor und schnellen Schritts auf sie zu. Der mehr als einen Kopf größere Mann baut sich drohend vor ihr auf, holt mit der rechten Faust zum Schlag aus und formt den kernigen Satz: "Soll ich dir dafür eine scheuern?!"
Nach Angaben von Annemarie E. schlug Dr. K. dann mit der Faust zu. Sie weicht dem Schlag aus, wird an der Schläfe getroffen, verliert dabei das Gleichgewicht. Während sie zu Boden geht, reißt ihr der erboste Nachbar den Krückstock aus der Hand. Annemarie E. ruft mehrmals "Feuer, Hilfe!".
Nachbarin Johanna K. (86) schaut daraufhin aus dem Fenster. Sie sieht Annemarie E. am Boden liegen, vor ihr Dr. K. mit dem Stock. Die ehemalige Finanzbuchhalterin ruft aus dem dritten Stock herunter: "Geben Sie der Frau den Stock zurück!" Und: "Soll ich die Polizei rufen, Frau E.?"
Auch der junge Vater, der Frau E. eben noch grüßte, lässt Frau und Kind stehen und eilt auf die ängstlichen Rufe hin zu Hilfe. Er sieht Annemarie E. am Boden, beobachtet, wie Dr. K. den Krückstock der alten Frau ins Gebüsch wirft und rasch davoneilt. Frau E., die jetzt massiv mit Herzproblemen kämpft, erklärt dem jungen Mann: "Er hat mir mit der Faust ins Gesicht geschlagen."
Am nächsten Tag grün und blau
Polizei und Feuerwehr erscheinen. Der Sachverhalt wird aufgenommen. Weil Frau E. jedoch nicht weiß, wo sie ihren Dackelmix "Bongo" lassen soll, lehnt sie eine ärztliche Behandlung im Krankenhaus ab. Am nächsten Tag, sagt Frau E., war sie grün und blau an den Stellen, mit denen sie auf dem Gehwegpflaster aufschlug.
Danach sei es mit ihr gesundheitlich massiv bergab gegangen. Heute, ein halbes Jahr nach dem unerfreulichen Ereignis, ist Annemarie E. praktisch ein Pflegefall. "Bongo" musste sie schweren Herzens weggeben. Doch obwohl der Dackelmix seit dem Frühjahr nicht mehr im Haus ist, beschwert sich Dr. Alexander K. weiter beim Hausmeister über dessen angebliches Gebell.
Da Dr. Alexander K. flüchtete und Annemarie E. ihren Angreifer namentlich nicht kannte, wurden die Ermittlungen zunächst eingestellt. Ein Zufall brachte den seltsamen Doktor von Nebenan dann doch ins Spiel.
Reuelos geständig
Am Tag der Hauptverhandlung am 23. Juni 2008 bestätigt Dr. Alexander K., Annemarie E. am besagten Tag bedroht und zum Schlag ausgeholt zu haben. Der grobe, kräftige Süddeutsche mit dem halblangen Haar, der in allerlei Grau und Beige gekleidet ist, lässt keinen Zweifel daran, dass er sein Handeln noch immer akzeptabel findet. "Kann sein, dass sie sich auf den Boden gesetzt hat", erklärt der arbeitslose Arzt trotzig.
In einer Verhandlungspause gibt Dr. Alexander K. den Zuhörern auf dem Flur eine Kostprobe seiner Unbeherrschtheit. Ohne Vorwarnung und ohne voraufgegangene Worte stürzt er auf die Fotografin zu, packt ihren Fotoapparat, baut sich dabei drohend vor ihr auf. Erst nach mehrmaliger Aufforderung lässt er sie los.
Die Journalistin setzt die Strafkammer über diesen Vorfall in Kenntnis. Kurz darauf stellt Richterin Odenthal zum allgemeinen Erstaunen das Verfahren gegen Dr. Alexander K. wegen Geringfügigkeit ein. In der Begründung heißt es, der Angeklagte sei nicht vorbestraft, kein Schaden entstanden, Annemarie E. ohne Begründung der Verhandlung fern geblieben. Es bestände mithin kein öffentliches Interesse.
Phantomtelefonat, verschwundenes Attest
Frau Annemarie E. dementiert jedoch, entschuldigungsfrei der Verhandlung am 23. Juni 2008 fern geblieben zu sein. Diesem Magazin gegenüber erklärte Annemarie E., dass sie nach Erhalt der gerichtlichen Ladung in Gegenwart ihrer Tochter sofort mit der Geschäftsstelle der Strafkammer telefonierte, weil sie aus gesundheitlichen Gründen derzeit einer Verhandlung nicht beiwohnen kann. In besagtem Telefonat bat eine freundliche Justizangestellte Annemarie E., ein Attest beizubringen. Es sei laut Annemarie E. ein längeres, nettes Gespräch gewesen, in dem von einer möglichen Hausvernehmung die Rede war und in dem die Justizangestellte erklärt hatte: "Ich fand den Herrn K. auch unheimlich."
Frau Annemarie E. gibt an, bei ihrem Hausarzt das geforderte Attest beschafft und hierfür fünf Euro bezahlt zu haben. Ihre Tochter schickte das Attest unter Angabe des Geschäftszeichens an das Gericht.
Frau Annemarie E. ist über die Einstellung des Verfahrens enttäuscht und erbost über die Unterstellung, sie habe auf die gerichtliche Ladung nicht reagiert. Sie wird nun, sagt sie, via Einzelverbindungsnachweis ihrer Telefonfirma das Gespräch mit der Geschäftsstelle bekunden und die Quittung für das Attest beibringen.
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Richterin Odenthal ließ über die Justizpressestelle auf Nachfrage wissen: "Es hat keinen Anruf gegeben. Ein Attest ist in der Geschäftsstelle nicht angekommen."