aus dem moabiter kriminalgericht
Sexueller Missbrauch: Jugendamt versagte
von Barbara Keller
16. Februar 2004. Kriminalgericht Moabit. In welch umfänglicher Weise ein Mädchen, das in einer Familie mit stiefväterlichem Missbrauch lebt, allein gelassen ist, offenbart der Fall Norbert L. Am zweiten Verhandlungstag treten als Zeugen unter anderem die Mutter - Britta L. - und Vertreter vom Jugendamt auf. Um Klartext zu reden: auch beim Jugendamt - Versagen auf der ganzen Linie.
(Zu weiteren Berichten: -1-, -3-)
Kapitel Eins: die Mutter (Britta L). - Tochter Sonja S. (damals 12) wohnt vor dem Auftreten von Norbert L. (dem Angeklagten) bei dem Großvater. Der Opa lebt mit einer Lebensgefährtin zusammen und ist wegen Missbrauchs von Kindern vorbestraft. Nicht auszuschließen, dass es hier erste Konditionierungen gab in Hinblick auf: männliche Zuwendung heißt Fleischeslust.
Nach erstem Liebesglück zwischen Britta L. und Norbert L., kehrt Sonja S. in ihre elterliche Wohnung und Letzterer zu seinen alten Lebensgewohnheiten zurück: Alkoholmissbrauch, ungezügelte Wutausbrüche mit gewalttätigen Übergriffen. Vor allem gegen die Mutter, Britta L.
Norbert L. fängt an, unter fadenscheinigen Erklärungen im Zimmer von Sonja S. und neben ihr zu nächtigen. Der Höhepunkt der partnerschaftlichen Differenzen kulminiert im Missbrauch des Stiefvaters an Sonja S., die er später als Ersatz für Britta L. zu seiner Partnerin macht. Sonja S.: "Ich kam mit vor wie ein Putzmädchen, wie eine Nutte."
Mutter Britta L., die aus Angst vor dem alkoholabhängigen Norbert L. in ein Frauenhaus türmte (unter Zurücklassung der damals 12jährigen Sonja S.) beteuert heute, ihre Tochter sei nur aus Angst bei ihrem Expartner geblieben: "Er hat gedroht, er würde sie umbringen." Dennoch meldet sie Zweifel am Missbrauch von Norbert L. an ihrer Tochter Sonja S. an: "Ich gehe davon aus, dass Beide das wollten." Ihre Tochter war damals 12 Jahre alt.
Soweit der Auszug aus einer komplexen Tragödie nicht begriffener Elternverantwortung. - Norbert L., der bis heute nichts versteht und dem Jugendamt gegenüber erklärt, er wolle gar nicht erwachsen werden. - Britta L., die die Augen verschließt, mit ihren Kindern um Zuwendung buhlt und weder sich noch ihre Kinder vor Übergriffen zu schützen weiß. Zu Recht fragt Richter Boß: "Hat Ihnen die Polizei einmal Mitschuld vorgeworfen?"
Kapitel Zwei: das Jugendamt. Nachdem Norbert L. seine Stieftochter missbrauchte, beichtet er in volltrunkenen Zustand die Tatsache Britta L. Die ist schockiert. Norbert L. wendet sich an das Jugendamt. Telefonisch. Er will offenbar einer offiziellen Aufdeckung vorbeugen.
Heide W., Sozialarbeiterin, ist die zuständige Mitarbeiterin beim Jugendamt. Der Angeklagte: "Frau W. hatte mich schon immer gewarnt, dass "das" passieren könnte." Die Sozialarbeiterin mit den richtigen Vorahnungen bestellt erst das Elternpaar, dann Sonja S. zu sich. Aber Sonja S. leugnet, irgendetwas mit Norbert L. "zu haben".
Die Sozialarbeiterin: "Da konnten wir überhaupt nichts machen." Ja, Frau Heide W. geht sogar weiter: "Sonja S. wollte das Verhältnis. Norbert L. hat ja auch gute Seiten." Und: "Sonja S. hat es sehr hofiert, der Mutter vorgezogen worden zu sein." Man hätte in entsprechenden Gremien darüber gesprochen. Aber außer Kopfschütteln und Schulterzucken scheint dabei nichts herausgekommen zu sein.
Strafanzeige wegen Missbrauchs Schutzbefohlener gegen den geständigen Norbert L. hat das Jugendamt bei der zuständigen Polizeibehörde nicht erstattet. Unverständnis hierüber auch bei Richter Boß: "Man möchte meinen, ein Telefon hierfür stände in jeder Behörde bereit."
Stattdessen zog sich der Spuk noch jahrelang hin. Allerdings - auch wenn es keinen Ausweg wusste, akribisch dokumentiert hat das Jugendamt den Fall Norbert L. schon. Sogar in doppelter Buchführung. So wurden nach Bekanntwerden des Missbrauchs sofort auch die drei kleinen Töchter von Norbert L. ärztlich untersucht. An dieser doppelten Buchführung zeigt das Gericht jetzt Interesse. - Wegen der darin enthaltenen detaillierten Daten.
NJW schreibt:
"Es gibt noch qualifizierte Gerichtsreporter..."
NJW-aktuell - web.report H. 38/2010, S.3
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