Eine Haft verlängernde, besondere Schwere der Schuld,
wie sie Staatsanwalt Ralph Knispel in seinem Plädoyer
gefordert hatte, mochte das Gericht aber nicht
feststellen: "Der Augenblick des Tatentschlusses war sehr
kurz. Ein bis zwei Sekunden blieben Mehmet E., um sich
für ein fast irrationales Nach-vorn-Preschen oder
für eine Festnahme wegen unerlaubtem Waffenbesitz zu
entscheiden", so Richter Luther. "Zu unserem Bedauern hat
E. den falschen Weg gewählt."
Der 31jährige Türke Yusuf K. und der
40jährige Kurde Mehmet E. kannten sich seit dem
Jahre 2001: Der kleine, jetzt glatzköpfige K.
arbeitete damals bei Wertheim am Kurfürstendamm.
Der schnauzbärtige, hagere E. in einem benachbarten
Imbiss. Als E. Anfang 2006 in die Neuköllner
Sonnenallee zog, sahen sich die beiden öfter. K.
wusste auch, dass Mehmet E. eine halbautomatische Waffe
besaß, denn sie hatten sich am 17. März 2006
zum gemeinsamen Überfall auf eine Prostituierte
verabredet. Diese hatte sich unkluger Weise in einem
Lokal in Gegenwart der beiden mit dem Besitz eines
höheren Geldbetrages gebrüstet.
Gegen 21.20 Uhr verfolgten die Angeklagten die Frau bis
in ihr Wohnhaus in der Neuköllner
Flughafenstraße, wo sie man sie beraubte. Die
Geschädigte wehrte sich heftig - nicht wegen der in
der Handtasche befindlichen 50 Euro, sondern weil die
Migrantin den Verlust ihres Reisepasses
befürchtete. Yusuf K. sicherte an der Haustür
den Tatort, dann flüchteten die beiden in Richtung
Hasenheide, wo ihnen eine Zivilstreife entgegen fuhr.
Beim Anblick der beiden Flüchtenden schöpfte
Polizeihauptkommissar Uwe Lieschied Verdacht und
beschloss, sie zu kontrollieren. Bekleidet mit
schusssicheren Westen liefen Lieschied und sein Kollege
Sven B. den beiden Tätern entgegen. Lieschied rief
den beiden Flüchtenden zu: "Jungs, bleibt mal
stehen, Polizei!", erinnerte sich Sven B.
Fünf Meter trennten den Fahnder noch von Mehmet E.
Dann feuerte der Kurde aus seiner Česká
acht Schüsse in Richtung des Polizisten. Ein Schuss
durchdrang die Fensterscheibe einer Wohnung, blieb dort
in einem Schrank stecken. Sven B. rettete sich hinter
einen parkenden VW-Bus, Uwe Lieschied wurde von einem
Schuss über dem linken Ohr getroffen. Vier Tage
später starb der 42jährige Familienvater, der
seit 14 Jahren als Fahnder im Rollbergkiez arbeitete.
Zwei Tage nach seinem Tod nahmen rund 8.000 Menschen an
einem Gedenkmarsch vom Tempelhofer Damm zum Rollbergkiez
teil.
Kurz nach der Tat werden die geraubte Handtasche, ein
Elektroschocker, Pfefferspray und ein Paar Handschuhe
mit Schmauchspuren gefunden. Die DNA-Spuren an der
Tasche und den Handschuhen weisen auf Mehmet E., die vom
Elektroschocker und der Spraydose auf Yusuf K. Acht Tage
nach der Tat verhaftet ein SEK-Kommando aufgrund eines
anonymen Hinweises aus der Szene die beiden
Verdächtigen im Wedding. Mehmet E. legt ein
Geständnis ab, in dem er Details berichtet, die nur
der Täter wissen kann. Darin belastet er auch
seinen Komplizen Yusuf K.: Der habe sich am Tattag bei
ihm nach der Waffe erkundigt. Später führt E.
die Beamten noch zum Versteck der Waffe, die er in
Wannsee vergraben hatte, berichtet der Staatsanwalt.
Am 23. November 2006 begann der Prozess, der sich vor
allem mit den Indizien beschäftigte, denn Yusuf K.
bestritt die Tat und Mehmet E., der von zwei jungen,
profilierungfreudigen Anwälten vertreten wurde,
widerrief sein Geständnis nicht nur, sondern erhob
schwere Vorwürfe gegen die Justiz. Er behauptete,
man habe ihn geschlagen und ihm sein Geständnis
unter Zwang abgepresst. Durch die überraschende
Festnahme am 25. März 2007 habe er sich geistig so
beeinträchtigt gefühlt, dass seine Angaben
nicht als Beweis verwertet werden könnten. Auch
habe er als Kurde den türkischen Dolmetscher nicht
gut verstehen können. Das Gericht befand, dass
Mehmet E. des Türkischen durchaus mächtig sein
dürfte, da Kurden in der Türkei nicht so
autonom lebten, dass sie ohne türkische
Sprachkenntnisse auskämen.
Das Verteidigungsgebaren des Todesschützen war
für die Nebenkläger, Lieschieds Witwe und
seinen Sohn, unerträglich, wie deren Rechtsbeistand
in seinem Plädoyer ausführte. Und auch das
Gericht rügte diese Strategie.
Auch der zweite Angeklagte, Yusuf K., suchte sich zu
Prozessbeginn über seinen Verteidiger Michael
Böcker von der Tat zu distanzieren. Er hätte
kurz nach 21 Uhr in der Flughafenstraße
zufällig Mehmet E. getroffen. Der habe ihn zu sich
herangerufen. Mehmet E. sei dann in ein Haus gegangen,
bald darauf mit neuer Kleidung herausgekommen und dann
schnellen Schrittes Richtung Hasenheide gelaufen. Yusuf
K. sei ihm einfach nur gefolgt. Den Elektroschocker und
das Pfefferspray habe er bei sich getragen, um sich vor
gewalttätigen Arabern zu schützen, so Anwalt
Böcker für seinen Mandanten Yusuf K.
Gleich am ersten Verhandlungstag wurden auch die beiden
Kollegen des erschossenen Beamten als Zeugen
gehört, die sichtlich aufgewühlt die
Ereignisse jener kalten Märznacht schilderten.
Beide beschrieben übereinstimmend einen kleinen,
untersetzten und einen großen hageren Täter.
Dennoch zweifelten insbesondere die Verteidiger von
Mehmet E. jedes Beweismittel an und forderten am Schluss
sogar den Freispruch ihres Mandanten. Die von der
Nebenklage vielleicht erhoffte Reue der Angeklagten
blieb aus.
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Update, 16.11.2019:
Zwei Straßen in Neukölln sollen nach den im
Dienst getöteten Berliner Polizisten Roland
Krüger und Uwe Lieschied benannt werden.
-> "Neukölln will Straßen nach
getöteten Berliner Polizisten benennen",
Tagesspiegel 8.5.2019
-> "Zwei Straßen werden nach
getöteten Polizisten benannt", berlin.de,
7.11.2019