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aus dem moabiter kriminalgericht


Duell in Nadelstreifen


von Barbara Keller

03. Juni 2005. Kriminalgericht Berlin Moabit. 22. Gr. Strafkammer.
Im Haus der Mittenwalder Straße kennt man sich nicht: weder Dr. Jason P. M. (29) noch Ralph P. (32). Auch die beiden Männer sind sich, jedenfalls bewusst, nie begegnet. Man sieht sich nicht, hört sich nicht. Nur am 8.11.04, da verlieren sich für zehn Minuten die Klänge eines billigen Ghettoblasters in der Stille. Dr. Jason P. M. steht sofort im Bett. Er hört, was selbst die luchsohrige Hauswartsfrau Christa V. (66) von nebenan nicht mitbekommt. Dr. Jason P. M. steigt in seine Sachen und geht los - in der Gesäßtasche ein Messer.

Prozess (2), 24.10. - 9.11.2006 (erste Revision)
Prozess (3), seit 8.01.08 (zweite Revision)
das BGH-Urteil zur 2. Revision
(3.1.) - Urteil vom 6.2.2008 (Revision ist von Seiten der Verteidigung eingelegt)

8. November 2004. Dr. Jason P. M. und Ralph P. sind Nachbarn. Sie wohnen in einem Mietshaus in der Mittenwalder Straße in Kreuzberg. Die Wohnung von Ralph P. liegt in der zweiten Etage, direkt über der des frisch promovierten Sprachwissenschaftlers aus Atlanta, Georgia (USA), den sein Karriereweg 2001 von Amsterdam nach Berlin führte. Regieassistent Ralph P. bewohnt ein möbliertes Etablissement, das er berufsbedingt nur sporadisch nutzt.

An diesem Montagmorgen sehen sich die beiden Herren das erste Mal. Nachts gegen 4:00. Dr. Jason P. M. hat den ganzen Sonntag gelegen und sich nicht wohl gefühlt. Abends trinkt er zwei Flaschen Bier, nimmt ein paar Tabletten und legt sich gegen 23:00 schlafen. Wie vom Donner gerührt will er gegen 4:00 erwacht sein von lauter Fetenmusik. Dr. Jason P. M. wartet gerade mal zehn Minuten ab. Dann ergreift er die Initiative.

Ralph P. schließt, nicht mehr ganz nüchtern, gegen 4:00 die Haustür seiner Wohnung auf. Im Schlepptau eine Kollegin, die Maskenbildnerin Janet K.*. Beide kommen von einer Party im »Watergate« an der Oberbaumbrücke, wo sie mit weiteren Kollegen ein erfolgreich zu Ende gebrachtes Filmprojekt feierten.

Janet K.* ist sturzbetrunken und verschwindet ohne jeden Schnörkel sofort im Bett ihres Gastgebers. Ralph P. hingegen öffnet sich noch ein Bier und schaltet den Ghettoblaster an, dessen Lautstärke er als zimmerlaut empfindet. Als Ralph P. versucht, mit seiner Abenderoberung doch noch in näheren Kontakt zu kommen, klingelt es an der Haustür.

Ralph P. hält es für einen Klingelstreich an der Wechselsprechanlage. Doch dann steigert sich die Intensität des Läutens, dem ungeduldiges Pochen gegen die Tür folgt. Janet K.* sagt: »Was’n das für'n Idiot. Mach doch mal auf!«

Ralph P. - eindrucksvolle Tatoos am Oberkörper - öffnet widerwillig, nur mit einer Jogginghose bekleidet und schnauzt sofort los: »Was hast du'n für ein Problem?« Kurz darauf kommt es im Schummerlicht des Flurs zu einem testosterongeschwängerten Gerangel, von dem beide Beteiligten später behaupten werden: der Andere hat angefangen. – Allerdings bringt der promovierte Sprachwissenschaftler eine neue, gefährliche Note in den Hahnenkampf, indem er ein Messer zückt, mit dem er seinem Widersacher einen Lungenstich, einen Schnitt in den Hals und in den Oberschenkel beibringt.

Die Rettung kommt für den lebensgefährlich Verletzten, um Hilfe Rufenden weder von der schockparalysierten Janet K.*, noch von den älteren Herrschaften der Nachbarschaft – die allerdings immerhin die Polizei rufen. Bis auf die Gneisenaustraße wankt Ralph P. - leichtbekleidet, sich verzweifelt die stark blutende Wunde am Hals zuhaltend. Dort gelingt es ihm, einen Taxifahrer zur Vollbremsung zu veranlassen.

Für Dr. Jason P. M. heißt die Anklage am 3. Juni 2005 »versuchter Totschlag«. Bei einer Verurteilung könnte auf den Angeklagten im »minder schweren Fall« eine Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr zukommen. Einen Monat Untersuchungshaft musste Dr. Jason P. M., direkt nach seiner Verhaftung, bereits über sich ergehen lassen. Für ihn steht viel auf dem Spiel.

*Name von der Redaktion geändert
Urteil:
Nachdem am am 1. Juli 2005, dem letzten Prozesstag, Gutachter Dr. Ascherl dem Angeklagten Dr. Jason M. völlige Zurechnungsfähigkeit bescheinigte, auch das Ergebnis einer Untersuchung der Blutspuren auf der Jacke des angeklagten Sprachwissenschaftlers keine entlastenden Beweise erbrachten, blieben nach einem hartnäckigen Ringen der Rechtsanwälte um ein mildes Urteil für ihren Mandanten nur noch die Plädoyers. Während Staatsanwalt Torsten Neudeck eine Haftstrafe von drei Jahren und zehn Monaten für versuchten Totschlag fordert, dringen die Anwälte des Angeklagten auf Freispruch oder eine Verurteilung wegen "gefährlicher Körperverletzung". Rechtsanwalt Nicolas Becker, der erklärt: "Wir wissen überhaupt nicht, wie es gewesen ist", appelliert an den Gerechtigkeitssinn der Strafkammer. "In dubio pro reo", insistiert Becker und: "Wir müssen es dem Mann aus Amerika beweisen, dass die deutsche Rechtssprechung sich an diesen Rechtsgrundsatz hält."

Am 4. Juli 2005 spricht das Gericht den Angeklagten Dr. Jason M. des versuchten Totschlags schuldig und verhängt eine Freiheitsstrafe von drei Jahren und zehn Monaten. Sie folgt, so das Gericht in der Urteilsbegründung, den Aussagen des Opfers Ralph P. Die Schilderungen von Dr. Jason M. hätten dagegen emotionslos und wie auswendig gelernt geklungen. Zudem behauptete der Angeklagte einem Polizeibeamten gegenüber, Ralph P. hätte ihn zuerst und mit einem Messer angegriffen. - Was nicht der Wahrheit entsprach. Dr. Jason M. hätte bei seinem nächtlichen Terrorklingeln mit einer Reaktion rechnen müssen. Eine Beschimpfung als "Penner" rechtfertige keine Messerattacke.

Dr. Jason M. nahm, wenn auch innerlich sichtlich angespannt, das Urteil vergleichsweise gelassen auf. Ihn begleitete seine Freundin, von Beruf Psychologin. Rechtsanwalt Nicolas Becker ließ schon jetzt wissen: "Selbstverständlich werden wir in Berufung gehen!" Und: "Mein Mandant handelte in Notwehr." - Staatsanwalt Torsten Neudeck hingegen zeigte sich zufrieden: "Der Angeklagte handelte aus einem völlig nichtigen Anlass heraus." - Das Opfer, Regieassistent Ralph P. war am Tage der Urteilsverkündigung nicht zugegen.

Unterm Strich:
In Marzahn wäre das nicht passiert. Lesen Sie: "'Lärmpolizei' jetzt in ganz Marzahn unterwegs" (pdf 112 kb)

Lesen Sie auch:
STREIT WEGEN RUHESTÖRUNG
Nachbarin erschießt Partygast (8.08.05, Spiegel Online)



NJW schreibt:
"Es gibt noch qualifizierte Gerichtsreporter..."
NJW-aktuell - web.report H. 38/2010, S.3




gitter


Dr. Jason P. M., zückte in einem Disput wegen nächtlicher Musik das Springmesser - mit Folgen.


Regieassistent Ralph P. - stiller Zeitgenosse in einem Haus der Mittenwalder Straße, Kreuzberg. Zehn Minuten Musikhören erhitzten das Gemüt eines Nachbarn 'bis auf's Messer'.


Janet K.* sah und hörte den verletzten Freund um Hilfe rufen, geriet in Panik und war völlig blockiert.


Staatsanwalt Torsten Neudeck forderte eine Freiheitsstrafe von drei Jahren und zehn Monaten. Das Gericht folgte seinem Antrag.


Rechtsanwalt Nicolas Becker will in Revision gehen. Becker in seinem Plädoyer: "Wir wissen doch überhaupt nicht, wie das gelaufen ist."


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