Am Mittwoch, dem 21. November 2007, betritt Taner I. das Café Segafredo am Hauptbahnhof. Er ist auf der Durchreise. Ein normaler Kunde, wie jeder andere, scheint es. Er bestellt an der Kasse ein Bier, das er auch gleich bezahlt. Doch dann fragt Taner I. den Kellner Mehmed K. (31) distanzlos nach seinem Handy und erfährt einen abschlägigen Bescheid.
Nachdem Taner I. das begehrte Telefonat mit seiner Schwester an einem öffentlichen Telefon abgewickelt hat, kehrt er in das Café zurück und beginnt, Selbstgespräche führend aufgeregt auf- und abzulaufen. Während es zunächst nicht gelingt, den seltsamen Vogel auf einen der Sitzplätze zu bannen, und auch ein Rausschmiss folgenlos bleibt, kommt es zwischen Kellner Mehmed K. und Taner I. zu so etwas wie einem Gespräch.
"Ich bin nicht richtig im Kopf"
Was Mehmed K. gegen ihn hätte, will der sichtlich verstörte Mann wissen. Und nach einem nicht ganz erfolglosen Beschwichtigungsversuch des Kellnerkollegen Karsten-Uwe R., verlangt Taner I. nach einem Krankenwagen. Er erklärt auch, warum. "Schau mich an", sagt er, "ich habe richtig Probleme!" Weil er "nicht richtig im Kopf" sei.
Kellner Mehmed K. fühlt sich mit der Situation überfordert und fragt bei seinem Chef im Lager nach. Der sagt: "Ruf die Polizei." Auf die alsbald eintreffenden Beamten der Bahnpolizei macht Taner I. einen wirren Eindruck. Der Mann mit den aufgesprungenen Lippen und den zerrissenen Jeans wirkt total in die Enge getrieben. Der darauffolgende Einsatz von Pfefferspray gegen den jungen Türken lässt die Situation eskalieren.
Statt Krankenwagen Sondereinsatz
Taner I. ist zu diesem Zeitpunkt auf das Höchste verwirrt. Der arbeitslose, geschiedene Mann, der seit 2000 in Deutschland lebt, hat weder sein Leben, noch seinen Kokainkonsum im Griff. Er glaubt sich beobachtet, gejagt, will mal seine Tochter in Magdeburg vor den allseits präsenten Verfolgern beschützen, mal seine Schwester in Dresden aufsuchen, um sie um Hilfe zu bitten.
Als Taner I., wie es ihm erscheint, von der Polizei mit Reizgas angegriffen wird, duckt er sich und bringt in heller Panik den Kellner Karsten-Uwe R. in seine Gewalt. Mit ein, zwei schnellen Schritten ist er am Tresen, hinter den sich der Angestellte ängstlich bückt. Mit dem linken Arm fixiert er dessen Hals, in der Rechten hält er das Küchenmesser mit einer elf Zentimeter langen Klinge. Das Messer trägt er eigentlich zu seiner Verteidigung gegen die imaginären Verfolger bei sich.
Verhandlungen ohne Gegenstand
In den darauffolgenden zweieinhalb Stunden, die für Taner I. wie im Flug vergehen, für sein Opfer jedoch zäh wie Sirup sind, kommt der mit ihm verhandelnde Beamte der alarmierten Sondereinheit keinen Schritt weiter. Matthias L. (52) muss schließlich resigniert feststellen: "Ich komme gar nicht an ihn heran."
Als der Polizeibeamte, dem aufgegeben war, die Schwester von Taner I. anzurufen, stattdessen die Gelegenheit zu einer Zigarettenpause vor dem Segafredo nimmt, gerät die festgefahrene Situation außer Kontrolle.
Taner I. sieht den rauchenden Beamten, fühlt sich verschaukelt und sucht mit seiner Geisel durch das Lager zu entkommen. Doch das ist eine Sackgasse. Nun stürzt der Geiselnehmer, sein Opfer mit sich schleifend, hinaus aus dem Café in den belebten Fußgängerbereich. Karsten-Uwe R. glaubte bislang sein Leben nicht bedroht, zudem Taner I. wiederholt erklärte "Dir passiert nichts!" Doch jetzt denkt er: "Oh, jetzt muss was passieren, sonst artet das aus!"
Eingriff und Zugriff
Als die Beiden in der Hektik straucheln, versucht Karsten-Uwe R. es mit Selbsthilfe und greift Taner I. nach dem Arm. Doch noch ehe dieser die Situation wieder in den Griff bekommen kann, hängt sich ihm auch schon eine andere Person in den Arm: der zu seiner Rechten stehende Arzt Reiner L. (57). Daraufhin erfolgt der 'Zugriff' des Beamten Nummer 169. Die Geiselnahme ist beendet.
Am 5. August 2008 muss sich Taner I., der derzeit in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht ist, vor dem Gericht wegen erpresserischem Menschenraub und versuchtem Totschlag verantworten. Es ist ein sogenanntes 'Sicherungsverfahren', denn die Staatsanwaltschaft glaubt, Taner I. war in der Tatzeit krankheitsbedingt schuldunfähig.
"Der macht nicht Ernst"
Der eher schüchtern und schmächtig wirkende Mann ist von Beginn an geständig und erklärt: "Ich bin glücklich, dass ich behandelt werde." Er lässt eine Stellungnahme durch seine Rechtsanwältin verlesen, in der es heißt: "Ich hatte nicht einmal ansatzweise in Betracht gezogen, Karsten-Uwe R. etwas anzutun."
Tatsächlich hat bislang die Mehrzahl der Zeugen eine gegen die Geisel Karsten-Uwe R. angenommene Stichbewegung durch Taner I. nicht bestätigen können. Auch der dem Geiselnehmer am nächsten stehende Arzt Dr. Reiner L. nicht. Der bestätigt zwar: "Ja, es war eine gefährliche Situation und es bestand eindeutig die Gefahr, dass der Knoten platzt." Aber er habe von Beginn an den Eindruck gewonnen: "Der macht nicht Ernst."
Sollte diese Stichbewegung in Zweifel gezogen werden können, dürfte dem Angeklagten der Vorwurf des versuchten Totschlags mit allen damit verbundenen Folgen erspart bleiben.
Die Verhandlung wird am 19. Mai 2008, 10:15, im Saal 500 fortgesetzt. Als Zeugen sind unter anderem Verwandte des Angeklagten und der
forensische Psychiater Prof. Dr. Hans-Ludwig Kröber als Sachverständiger geladen. Auch mit den Plädoyers wird an diesem Tag begonnen.
Urteil vom 21. Mai 2008
Die 35. Große Strafkammer ordnete am dritten Tag der Hauptverhandlung gegen Taner I. die
Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an. Sie hielt in ihrer Urteilsbegründung die Tatbestände des erpresserischen Menschenraubes sowie der versuchten schweren räuberischen Erpressung gegeben.
Der Vorwurf des versuchten Totschlags wurde fallen gelassen, nachdem Zeugenaussagen die angenommenen Messerstiche gegen die von ihm genommene Geisel nicht bestätigten. - Das Gericht folgte den Ausführungen des psychiatrischen Sachverständigen, der Taner I. für
die Tatzeit für schuldunfähig hielt (§20 StGB).
Die Möglichkeit für eine Bewährung sah die Schwurgerichtskammer nicht gegeben, da ohne Behandlung und Stabilisierung seiner Psyche Taner I. wiederholt so oder ähnlich reagieren könnte.
Wäre Taner I. zum Zeitpunkt der Tat schuldfähig gewesen, hätte, so das Gericht, die Aussicht auf eine sieben- bis neunjährige Haftstrafe im Raum gestanden.