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Mildes Urteil - schwerer sexueller Missbrauch


von Barbara Keller

25. Februar 2004. Kriminalgericht Moabit.
Nach vier Verhandlungstagen ist der Prozess gegen Norbert L., angeklagt wegen Vergewaltigung seiner 12jährigen Stieftochter Sonja S., zu Ende. Das Urteil lautet: zwei Jahre Haft, ausgesetzt auf drei Jahre Bewährung. Das Gericht unter Vorsitz des Richters Boß entschied sich für den unteren Grenzbereich der Strafmaßskala. Zitat: "im Zweifelsfall gilt immer 'zugunsten des Angeklagten'".

(Zu weiteren Berichten zu diesem Prozess: -1-, -2-)

Viel allerdings sprach nicht zugunsten des Angeklagten Norbert L., der den Geschlechtsverkehr mit der damals 12jährigen Sonja S. notgedrungen zugab. Als Zeugen hatten Polizeibeamte, Freundinnen der Klägerin, Sozialarbeiter des Jugendamtes, die Mutter, Sonjas Freund und dessen Schwester ausgesagt. Das von Norbert L. entworfene Persönlichkeitsbild wurde wiederholt bestätigt: ein unbeherrschter, unberechenbarer Alkoholiker, der sich als Sprecher der Familie gerierte und Außenkontakte gegen das symbiotische Miteinander abschirmte.

Dennoch lernt Sonja S. Ende 2000 einen jungen Mann kennen und lieben. Stefan S. - heute gelernter, praktizierender Schlosser. Da ist sie 16 Jahre alt und lebt in erzwungenem eheähnlichen Verhältnis mit ihrem Stiefvater. Stefan S. wundert sich, warum seine Liebste so schüchtern-schreckhaft ist. Warum sie immer wieder die Hände zur Abwehr vor das Gesicht reißt. Als sie das erste Mal miteinander intim werden, bekommt Sonja S. einen Weinkrampf. Stefan S. ist verstört und befürchtet, etwas verkehrt gemacht zu haben. Erklärungsbedarf bringt jedoch die traurige Wahrheit ans Licht. Die Reaktion Stefan S.: "So was gehört vors Gericht. Denk an deine Geschwister!"

Nach über zwei Jahren Behördenlabyrinth ist das Urteil nun endlich gesprochen. Unstrittig sind zwei Tatvorwürfe, die der Angeklagte Norbert L. auch einräumt. Der schwere sexuelle Missbrauch eines Kindes (§ 176a StGB) und der sexuelle Missbrauch einer Schutzbefohlenen (§ 174). Ersterer wird per StGB mit einer Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr, in minder schwerem Fall mit einer Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe geahndet. Letzterer sieht eine Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder eine Geldstrafe vor. In minder schwerem Fall, "wenn bei Berücksichtigung des Verhaltens des Schutzbefohlenen das Unrecht der Tat gering ist", bleibt das Gericht auch hier darunter.

Strittig war dagegen die Anklage nach § 177 StGB wegen sexueller Nötigung; Vergewaltigung, die im schweren Fall ("Eindringen in den Körper") eine Haftstrafe nicht unter zwei Jahren, d. h. auch keine Bewährung vorsieht. Das Hauptaugenmerk bei der Verhandlung lag auf der Rolle von Gewalt in dem erzwungenen, eheähnlichen Zusammenleben von Stiefvater und Tochter sowie in dem schweren sexuellen Missbrauch der damals 12jährigen Sonja S. Eine Grundvoraussetzung für die Anwendung des § 177 StGB.

Gewalt indessen ging von Norbert L. nachweislich in Permanenz aus. Da diese jedoch nicht zweifelsfrei in Zusammenhang gebracht werden konnte mit dem Missbrauchsgeschehen, entstand offenbar jener juristische Zweifel, der es einem deutschen Gericht nicht gestatten will, wegen Vergewaltigung zu verurteilen.

Dass der schwere sexuelle Missbrauch eines Kindes per se als "Vergewaltigung" eingestuft werden könnte, dass Norbert L., als gewalttätig geschilderte Autorität, vielleicht nur jenen scharfen Ton anwenden brauchte, den er selbst als pädagogisches Mittel für Mädchen empfiehlt - alles Rhetorik. Denn das StGB definiert in diesem Fall nach §177 StGB "Gewalt" als "gegenwärtige Gefahr für Leib oder Leben" des Opfers oder "Ausnutzung einer Lage, in der das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert ist".

Aber Sonja S. hatte ja nur zaghaft geweint: "Ich will nicht." Und das Festhalten der Arme des Kindes mag das Gericht ebenfalls nicht als klare körperliche Gegenwehr werten. Zudem: wie konnte Norbert L. dem Mädchen die Hände festhalten und gleichzeitig ihre Brüste berühren? Rein technisch. Vielleicht hat er ihr doch nicht die Hände festgehalten?

Hilfreich für die Urteilsfindung war das Gutachten der sachverständigen Psychologin Bettina Zietlow, die die Glaubwürdigkeit der Klägerin mit sparsam korrekten Aussagen unterstrich. Hilfreich war auch das Plädoyer der Vertreterin der Nebenklage, Rechtsanwältin Undine Weyers, die die Dynamik der sich mit dem Tabubruch ausweitenden Grauzone um die Familie S. und deren sozialem Umfeld verdeutlichte.

Dieses Plädoyer hätte einige Wirkung auch auf die Seelenhygiene Norbert L. entwickeln können - wäre der Angeklagte dafür nur empfänglich gewesen. Norbert L. hatte für den Tag der Urteilsverkündigung sein bestes 'graues weißes' Hemd angezogen. Sein letztes Wort, bevor das Gericht sich zur Beratung zurückzog, lautete, er bedaure das Vorgefallene. Er sei jedoch wegen seiner Gewaltausbrüche seit drei Jahren in psychologischer Behandlung (Verhaltenstherapie). Und er trinke - Norbert L. ist Alkoholiker - nicht mehr so viel Alkohol. Aber ansonsten möchte er sich gegen die Darstellungen der Anklage verwehren. - Kein Wort der Entschuldigung gegen Sonja S.

Das Urteil des Gerichts, das dem Antrag der Staatsanwältin Jung auf zwei Jahren und sieben Monaten Freiheitsentzug für Norbert L. nicht folgte, kann der Zuhörer dieses Prozesses nur schwer nachvollziehen. Weder besteht eine "günstige Prognose" für den Angeklagten, dessen Therapie sich nicht auf den Kindesmissbrauch bezieht und dessen Verständnis für seine Straftat noch immer in der zynischen Behauptung gipfelt: "Wir haben es beide gewollt", noch ist klar, warum das Gericht Norbert L., mit dem geringstmöglichen Strafmaß beglückte.

Trotzdem. Heute, Mittwoch, hat Sonja S. die quälende Prozedur endlich hinter sich. Sie scheint ohne Hass, ohne bemerkenswerten Affekt gegen ihren Stiefvater Norbert L. Erleichterung ist ihr allerdings schon ins Gesicht geschrieben darüber, dass endlich ein Urteil gesprochen wurde. Dass dieses Kapitel abgeschlossen ist und durch die öffentliche Verurteilung ihres Stiefvaters soziale Wertigkeiten an ihre rechte Stelle gerückt sind. Die Erfahrung, dass ihr Freunde und Erwachsene in dieser Sache beistanden und sie bestätigten, ist eine Premiere für Sonja S.



NJW schreibt:
"Es gibt noch qualifizierte Gerichtsreporter..."
NJW-aktuell - web.report H. 38/2010, S.3




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Norbert L.: Wegen schwerem sexuellen Missbrauch verurteilt
Der Angeklagte Norbert L.

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