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Mitfahrgelegenheit, blablacar

aus dem moabiter kriminalgericht


Fahrerflucht mit Todesfolge


von Barbara Keller

30. März 2007. Moabiter Kriminalgericht, 22. Große Strafkammer.
Am 16. Juni 2006 gegen 12:00 fährt Marcus G. (30) mit seinem Daimler auf Höhe der Sonnenallee 123, Neukölln, auf einen anderen Wagen auf. Mit Schaden. - Er beschließt zu türmen und rast auf seiner Flucht in eine Fußgängergruppe. Vom Unfallort Sonnenallee, Ecke Roseggerstraße über die Treptower Straße bis in die Stuttgarter Straße - circa 500 Meter - schleift Marcus G., offenbar wissentlich, eine Fußgängerin in den Tod. Es ist Gitti S. (70), die zunächst auf seiner Kühlerhaube zu liegen kommt, nach einem Bremsmanöver vor den Wagen rollt, schließlich zwischen Spoiler und Straße verklemmt und mitgerissen wird.
Urteil vom 11.05.07

Freitag, 16. Juni 2006, mittags gegen 12:00. Sonnenallee, Ecke Roseggerstraße. Es ist ein sonniger, fast wolkenloser Tag. Taxifahrer Hamid Ö. (38) steht an einem Imbiss gleich neben dem Taxistand und klönt mit den Kollegen. Die Augen des schlanken, ganz in Schwarz gekleideten Mannes mit dem schütteren Haar gleiten absichtslos über die Umgebung.

Am nahe gelegenen Fußgängerweg sieht er vier Personen auf die Ampelschaltung warten. Drei ältere Damen und ein Herrn mittleren Alters mit Fahrrad. Brigitte S. (53), die als Ein-Euro-Joberin Ausfahrten mit der Rollstuhlfahrerin Helga R. (78) unternimmt, kommt gerade von einem Einkaufsbummel bei C & A. Jetzt warten sie geduldig auf das Ampelsignal.

Warten auf Grün

Neben ihnen steht, etwas bullig, gemütlich und mit praktischem Bürstenschnitt, Neidhardt K. (49). Auch der heutige Callcenteragent arbeitet damals als Ein-Euro-Jober und 'klappert', wie er sagt, zum Zwecke von Datenerhebungen die gesamte Sonnenallee, darunter auch die gegenüberliegende Roseggerapotheke, ab. Neidhardt K., der gewöhnlich die Kreuzung auf dem Rad fahrend überquert, schiebt heute.

Er raucht, hängt mit Bauch und Schulter über den Fahrradlenker und zieht, in die Sonne blinzelnd, genießerisch den Rauch seiner Zigarette ein. An dem 50 Meter entfernten, parallel die Sonnenallee querenden Fußweg wartet dagegen Selma K. (47). Die türkisch gebürtige Hauskrankenpflegerin, eine kleine, gesprächige Frau mit wirrem, aufgestecktem Haar, hat es eilig. Heute ist ihr Geburtstag. In Gedanken geht sie froh gestimmt noch einmal alle zu erledigen Posten durch.

Auf dem Balkon, im vierten Stock der Sonnenallee 44 steht der Grafiker Alessandro P. (21). Der schmächtige Jeansträger hat sich mit Kaffee und einer Zigarette zu einer Pause auf den Balkon gestellt. Er beobachtet, bedächtig den heißen Kaffee schlürfend, das rege Treiben auf der gut befahrenen Sonnenallee.

Auch Gitti S. (70), der nur noch wenige Minuten zu leben bleiben, steht - auf das Umspringen der Ampel wartend - neben den Damen mit dem Rollstuhl und Neidhardt K. Sie war eben mal schnell über die Sonnenallee Lebensmittel von einem Bekannten abholen.

Keine der Personen ahnt, welche Tragödie sich innerhalb weniger Augenblicke hier abspielen wird, in welche sie alle - mehr oder weniger - miteinbezogen werden.

Kokain, Heroin, Marihuana, Methadon...

Marcus G. sitzt derweil vollgedröhnt mit Drogen in seinem Daimler und fährt mit überhöhter Geschwindigkeit die Sonnenallee in südliche Richtung. Er ist gelernter Tischler. Der schwer drogenabhängige junge Mann lebt seit Kurzem von Arbeitslosengeld II. Er nimmt an einem Methadonprogramm teil. Nebenher wirft Marcus G. jedoch offenbar jede Droge ein, derer er habhaft wird.

Auch am frühen Abend des 15. Juni und die folgende Nacht vom Donnerstag auf Freitag hat er sich mit einem Bekannten in dessen Weddinger Wohnung getroffen, um Drogen zu konsumieren. Haschisch, Kokain, Marihuana, Herointabletten - das ganze Programm. Morgens zurück in seiner Wohnung klingelt das Telefon. Der Vater kündigt seinen Besuch an.

Marcus G. beschließt, schnell noch etwas Geld am Hallesches Tor zu ziehen, um damit Heroin für den Abend zu kaufen. Und wieder nutzt Marcus G., mehrfach wegen Betäubungsmittelmissbrauchs und Fahren ohne Führerscheins vorbestraft, seinen leicht 'aufgetunten' Daimler. Auf dem Rückweg fährt Marcus G. jedoch mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit auf einen anderen Wagen auf und verursacht einen Sachschaden.

Die Folgen fürchtend, seine letzte einschlägige Verurteilung lautete 'sechs Monate Haft auf Bewährung', tritt Marcus G. auf das Gaspedal und türmt. An der Kreuzung Sonnenallee, Roseggerstraße rast der Amokfahrer bei Rot mit quietschenden Reifen in eine Fußgängergruppe.

Brigitte S. wird zu Boden gerissen, eine Person fliegt durch die Luft, der Rollstuhl rotiert samt Helga R. mit geborstenen Rädern. Als der Unglücksfahrer vorbei ist, bleiben auf dem Fußgängerüberweg ein verwaister Schuh und ein Schlüsselbund zurück.

Ein Schuh und ein Schlüsselbund

Taxifahrer Hamid Ö. sieht, wie es Gitti S. auf die Kühlerhaube schleudert. Mit Entsetzen beobachtet er, wie die alte Dame, sich verzweifelt mühend, von der Kühlerhaube herunterzukommen, bei einem kurzem Bremsmanöver vor das Auto rollt und zwischen Spoiler und Asphalt gerät.

Als Marcus G. in diesem Moment beschleunigt, springt Hamid Ö. mit erhobenen Armen vor den Daimler, stützt sich auf den Kühler und schreit: "Bleiben Sie stehen! Unter Ihrem Wagen liegt jemand." Ein kurzer Augencheck der Männer, ein vager Blick des Rasers nach links, dann geht die irre Fahrt weiter.

Vergeblich versucht Hamid Ö., der sich mit einem schnellen Sprung beiseite rettet, die Beifahrertür zu öffnen. Sonnenallee, Treptower Straße, Stuttgarter Straße - fast 500 Meter schleift Amokfahrer Marcus G. die alte Dame mit sich. Als er den Daimler in der Stuttgarter Straße auf Höhe der Nummer Zwölf endlich stehen lässt, um zu Fuß weiter zu flüchten, rollt Gitti S. schwer verletzt unter dem Wagen hervor. Wenige Augenblicke später kann der Notarzt nur noch ihren Tod bestätigen. Innere und Kopfverletzungen, zahllose Knochenbrüche, darunter des Torax - die Verletzungen sind zu schwer.

Schnell hat die Polizei den Fahrzeuginhaber des Unfallfahrzeugs ausgemacht und eine bundesweite Fahndung ausgeschrieben. Der Verhaftung in seiner Wohnung entzieht sich Marcus G. jedoch zunächst durch Flucht. Zwei Tage später stellt und überwältigt ihn die Polizei. Marcus G. behauptet, von nichts zu wissen. Sein Wagen befände sich in der Werkstatt.

"Ich finde das krass..."

Ein knappes Jahr später, am 30. März 2007, muss sich Marcus G. (unter anderem) wegen Mordes vor der 22. Großen Strafkammer des Moabiter Kriminalgerichts verantworten. Zu erleben ist ein blasser junger Mann mit teigiger Gesichtsfarbe.

Über seinen Rechtsanwalt Detlef Kolloge gibt er zu, was sich ohnehin nicht lohnte zu leugnen: ja, er sei der Fahrer des Unfallwagens. Ansonsten keine weiteren Erklärungen. Vorerst aber noch so viel: Marcus G. bedauert seine Tat zutiefst. Das Opfer, so sagt er, hätte ja auch sein Vater oder seine Mutter sein können. Und wörtlich: "Ich finde das krass, was passiert ist."

Wie Nebenkläger Marcus und Manuela S., die Kinder von Gitti S., das schreckliche Ende ihrer Mutter empfinden, kann wohl kaum ermessen werden. - Jetzt arbeitet Rechtsanwalt Detlef Kolloge daran, den Mordvorwurf von seinem Mandanten zu nehmen und eine verminderte Schuldfähigkeit nach § 21 StGB für ihn geltend zu machen. - Wie das Gericht unter Vorsitz von Richter Peter Faust entscheidet, bleibt abzuwarten. Bisher sind zwei weitere Termine vorgesehen Montag, der 2.04.07, 9:00, Saal 220 und Montag, der 16.04.07, 9:00, Saal 501.


Urteil vom 11.05.07:
Das Gericht wertete den Tathergang als Körperverletzung mit Todesfolge und verhängte eine Freiheitsstrafe von zehn Jahren. Zugleich ordnete die 22. Strafkammer die Unterbringung des drogenabhängigen Angeklagten in einer Entziehungsanstalt an sowie eine lebenslange Sperrfrist zur Erteilung einer Fahrerlaubnis.


NJW schreibt:
"Es gibt noch qualifizierte Gerichtsreporter..."
NJW-aktuell - web.report H. 38/2010, S.3




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Marcus G.
Marcus G. raste auf Fahrerflucht in eine Fußgängergruppe und riss dabei eine der Passantinnen in den Tod. (Foto: Polizei)

RA Roland Weber
Rechtsanwalt Roland Weber für die Nebenklägerin Manuela S., Tochter des Unfallopfers: "Marcus G. war voll schuldfähig."

RA Detlef Kolloge
Rechtsanwalt Detlef Kolloge hat Bedenken hinsichtlich der Schuldfähigkeit seines Mandanten Marcus G. In Bezug auf die Mordmerkmale sagt er: "Das muss man noch sehen."


22. Gr. Strafkammer
Die 22. Große Strafkammer unter Vorsitz von Richter Peter Faust.

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