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aus dem moabiter kriminalgericht


Im Zeichen des Kümmerlings
Ein Nesthäkchen sieht ROT


von Barbara Keller

31. Dezember 03. Kriminalgericht Moabit. Montag, 17. Februar 2003, nachmittags. Ein türkischer Imbiss in Kreuzberg. Einige Gäste, türkische Angestellte, ein vietnamesischer Koch. Ein ca. vierzigjähriger, türkischer Mann, zuvor unauffällig einige Kümmerlinge trinkend, schreit plötzlich herum. Er hält ein Messer in der Hand. Alle sollen auf der Stelle den Laden verlassen. Niemand der Gäste lässt sich lange bitten, auch der Inhaber des Ladens springt nach einem kurzen Wortwechsel aus dem offenen Verkaufsfenster. Nur der vietnamesische Koch bleibt zurück.

Für das, was dann folgte, gibt es verschiedene Lesarten. Eine Variante lautet, der Mann habe den Koch unter Vorhalten des Messers zum Öffnen der Kasse bewegen wollen. Schließlich warf er selbst die Kasse auf den Boden. Das Geld sprang auf dem Boden herum. 165 € soll sich der Beschuldigte gegriffen haben. Die Beteiligten jedoch - auch der vietnamesische Koch - schweigen. Der Ladeninhaber verzichtet gar auf eine Strafverfolgung. Für das Gericht ist der Fall klar: türkische Mafia. Eine interne Querele. Hier müssen harten Bandagen heran.

Was da jedoch vor dem Kadi erscheint, ist alles andere als ein hartes Mafiamitglied. Ünal D. (39) ist ein mittelgroßer, unsicher wirkender Mann. Die Verhandlung kann nicht beginnen, weil sich Ünal D. im Gerichtsgebäude verlaufen hat. Vor Aufregung und Anstrengung vom Treppensteigen grau im Gesicht erreicht er schwer atmend den Gerichtssaal. Er bleibt im akademischen Drittel. Die Richterin ist von Beginn der Verhandlung an wenig amüsiert. Der Nachweis des Diebstahls auch nur eines Euro wird Ünal D. als schweren Raubtäter für mehrere Jahre hinter Gitter in die JVA Tegel bringen.

Aber der Beklagte ist geständig. Die Geschichte, die sich vor dem Gericht auftut, erheischt im besten Fall Mitleid. Ünal D. ist das Kind türkischer Einwanderer. Sohn einfacher Verhältnisse. Die Eltern gehen nach der Geburt des Sohnes nach Deutschland. Ünal D. bleibt bei den Großeltern. Diese lassen dem Enkel keine große Sorgfalt zukommen. Schläge sind keine Seltenheit. Ünal D. ist 11 Jahre alt, als ihn seine Eltern nach Deutschland nachholen. Er spricht kein Wort Deutsch und wird in einer Berliner Sonderschule eingeschult. Als er mit 17 Jahren die Schule verlässt, spricht er noch immer kein brauchbares Deutsch. Sein Schulabschluss ist beruflich nicht verwertbar.

Ein Jahr später verlassen Ünal D.'s Eltern Berlin und gehen in den Ruhestand, zurück in die Türkei. Ünal D. schlägt sich durch, jobbt, heiratet eine Türkin. Er bewegt sich ausschließlich in Familienkreisen, vermeidet die Sicht über den Tellerrand mittels Haschkonsum. Als er auch noch das wenige Geld in Glückspielen aus dem Fenster wirft, trennt sich seine Frau von ihm. Die Familie distanziert sich wegen seiner Haschischeskapaden. Ünal D. weder in Deutschland, noch in der Türkei heimisch steht mutterseelenallein da.

Er hat einen "Freund". Der aber besucht ihn nur, wenn Haschisch auf dem Tisch liegt. Um diesen Kontakt nicht zu verlieren, bedient Ünal D. seinen "Freund". Als ihm das Geld für sein sonderbares Gastgebermahl fehlt, unternimmt er einzelne Versuche, zu stehlen. Lederjacken bei HERTIE, KARSTATT oder ein technisches Gerät. Ünal D. hat jedoch kein Talent zum Dieb. Er ist zu aufgeregt und wird jedes Mal erwischt.

Seit 1995 ist Ünal D. in psychiatrischer Behandlung. Angstattacken machen ihm zu schaffen. Im Urbankrankenhaus versorgt man ihn mit Neuroleptika, die er seitdem täglich einnimmt. Er wird zu 70% schwer behindert eingestuft. Als ihm die Einsamkeit über den Kopf zu steigen droht, beschließt er, seiner Familie einen Besuch abzustatten. Er ist wütend auf sie, dass sie ihn im Stich lassen. Und das möchte er ihnen sagen - aber auch einfach mit jemandem reden. Am Montag des 17. Februar 2003 begibt er sich zu besagtem Imbiss in Kreuzberg, der seinem Neffen gehört.

Ünal D. trinkt einige "Kümmerlinge". Dann wird er wütend und dreht durch. Er schreit seinen Neffen an. Auch sie seien schließlich schuld an seiner Situation. Dann will Ünal D. seine Wut in Destruktion umsetzen. Er fordert alle Anwesenden auf, den Laden zu verlassen, um sie nicht zu verletzen. Denn er wird den Imbiss nun in Schutt und Asche legen. Flaschen fliegen, das Inventar zerdeppert. Geld wird genommen oder nicht. Die Polizei, das BKA erscheint die Staatsanwaltschaft wird aktiv.

Zwei Tage später gibt es einen großen Familienrat. Ünal D. entschuldigt sich. Die Familie meldet sich bei der Polizei, sie möchte nicht, dass die Angelegenheit strafrechtlich verfolgt wird. Das aber liegt nicht mehr in ihrer Hand. Am 30. Dezember 2003 um 9:00 sitzt die 15. Große Strafkammer im Saal 806 zu Gericht.

Das Urteil des Gerichts: Wegen Nötigung in Tateinheit mit Sachbeschädigung und viermaligen versuchten Diebstahls erhält Ünal D. eine Haftstrafe von einem Jahr - auf drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt. Außerdem verdonnert ihn das Gericht zu 100 Stunden gemeinnütziger Arbeit. Um ihn unter Menschen zu bringen, wie die Richterin erklärt.

Die Perspektive: Derzeit kümmert sich ein Betreuer wöchentlich einmal um Ünal D. Er hat die Hand auf dessen Portemonnaie und teilt dem Orientierungslosen das Geld zu. Kontakte, vielleicht auch einen Job findet Ünal D. über das Gesundheitszentrum in der Waldemarstraße, das er neuerdings besucht. Nun kommt noch ein Bewährungshelfer hinzu, der auf Ünal D. ein Auge hat. - Neben aller Eingliederungsmisere die Frage: War die Sonderschule der richtige Weg für einen normal entwickelten Jungen, der leglich kein Deutsch sprach?



NJW schreibt:
"Es gibt noch qualifizierte Gerichtsreporter..."
NJW-aktuell - web.report H. 38/2010, S.3




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