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krimirezensionen ab 2003

 

Gerhart Hauptmann
"Bahnwärter Thiel"
(
gelesen von Mario Adorf)
Hörbuch, 2 CDs
WORTSTARK 2004
ISBN 3-920111-21-4
19,95 €

Doppelmord in Berlin Erkner

von Barbara Keller


Ein Griff in die "Klassikerkiste". Nicht erst seit heute fragt sich erschaudernd der Zeitgenosse, wie gewisse blutige Tragödien sich ereignen konnten. Mitten unter uns. Auch die Literaten des Realismus und des Naturalismus nahmen gern reale Mordfälle zum Kern ihrer Bühnenstücke, Romane, Erzählungen oder Novellen. Gerhart Hauptmann - Bühnenautor, Naturalist und Nobelpreisträger (1912) – gehört zu ihnen. 1888 veröffentlichte er die Novelle "Bahnwärter Thiel“. Eine Doppelmordgeschichte, die sich im Speckgürtel Berlins, an der Vorortstrecke Berlin-Fürstenwalde-Frankfurt/Oder, ereignet haben könnte.

Gerhard Hauptmann lebt 1885 selbst in Erkner bei Berlin. Sein Stern als Literat sendet die ersten Strahlen. Gerade hat der aus Schlesien gebürtige Autor, Sohn eines bankrotten Hotelswirts, Enkel eines Webers, die betuchte Marie Thienemann geehelicht. Später wird das glückliche Ehepaar nach Berlin Moabit ziehen. Doch zunächst fühlt man sich wohl im waldigen, Brandenburger Umland.

Wie auch Bahnwärter Thiel, die Hauptfigur Hauptmanns Novelle. Thiel ist ein sommersprossiger, rothaariger Bahnbeamter. Ein großer, stämmiger, gesunder Typ und ein Träumer. Wortkarg wie Chandlers Privatdetektiv Phillip Marlow – aber ohne dessen Selbstbewusstsein. Sein morgendlicher Weg zu dem im Wald gelegenen Bahnwärterhäuschen dauert eine dreiviertel Stunde. Das einsame Arbeitsleben an der Bahnstrecke im Wald scheint Thiels mystisches Luftleben zu nähren.

Der große, fühlige Bär stapft also durch Brandenburgs Wälder, avanciert nach der Arbeit zum Liebling der Dorfkinder. "Vater Thiel“ nennen die Rotznasen den Pfeife rauchenden Phlegmatiker. Währenddessen sorgt ein guter, weiblicher Geist im Hause für den gesamten Haushalt. Zunächst die sensible, schmächtige Minna, die jedoch das Kindbett nicht überlebt. Sie hinterlässt dem dumpf trauernden Thiel das gesundheitlich schwächelnde Leichtgewicht Tobias.

Thiel heiratet erneut. - Die feiste, triebhafte Kuhmagd Lene. Auch sie sorgt für den Haushalt, baut Obst, Gemüse, die Kartoffeln an und versorgt bald zwei Kinder. Das aber nicht leise hustend wie die sensible Minna. Lene hält das Heft in der Hand. Und sie kann den zarten Tobias nicht leiden.

Der große, traurige Bär Thiel ist Lene sinnlich verfallen. Trotzdem er seinen Sohn liebt, liefert er ihn der bösen Stiefmutter aus. Hilflos träumt er sich in eine andere Welt. Als Thiel am Bahnwärterhäuschen einen Acker angeboten bekommt, auf dem Lene ferner die Kartoffeln anbauen soll, nimmt das Verhängnis seinen Lauf. An einem Montag ist der schicksalhafte Ausflug der gesamten Familie an Thiels Bahnwärterhäuschen geplant. Ein folgenschwerer Einschnitt in des Beamten Intimsphäre, der schließlich in der Irrenanstalt der Berliner Charité endet.

So oder anders kann sich eine Berliner Doppelmordgeschichte des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts im Kleinbürgermilieu zusammengebraut haben. In einem kleinbürgerlich konservativen Milieu, das dem Bahnbeamten Thiel ein befriedet geachtetes Uniformleben gönnte, von dem herunter er seine Kartoffeln anbauende Frau verträumt fragen konnte: “Und? Ist der Boden gut?“

Autor Hauptmann versucht, das Verhängnis, den Täter in spe transparent zu machen. Wie Thiel durch die Wälder stapft, verzweifelt, unverständig, rasend, ohne Substanz willig eins werdend mit der Natur nötigt er unser Mitleid. Das neue Label WORTSTARK hat die teils befremdliche, teils erstaunlich aktuelle Novelle als Hörspiel umgesetzt. Schauspieler Mario Adorf sorgt in der Rolle als Bahnwärter Thiel für die nötige professionelle Umsetzung. Orgel und Saxophon (Udo Becker, Volker Winck) schaffen die passende, mystisch unheimliche Atmosphäre.

Schmankerl: Auf der zweiten CD des übrigens auch optisch sehr ansprechend gestalteten Hörbuchs liest Anja Hauptmann (Enkelin des seinerzeit hoch dekorierten Dichters) Hauptmanns "Abgekürzte Chronik meines Lebens". Eine bisher wenig bekannte autobiografische Erzählung ihres Großvaters.



der MöhrenkillerG. Hauptmann: Bahnwärter Thiel
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